Durchgelesen und im Sprint geübt – Teil 185
- berndhinrichs
- 27. Juli
- 2 Min. Lesezeit

Beim Lesen ist es bei mir, wie im Sport: Ich bin gut in der Langstrecke und habe so meine Probleme im Sprint. Heißt, dass ich sehr gerne dicke Romane a la John Irving lese, aber nicht so gerne Kurzgeschichten oder Erzählungen. Hängt vermutlich damit zusammen, dass ich es immer wieder bedauerlich finde, mich von einer Figur zu verabschieden, die mir über ein paar Seiten richtig schmackhaft gemacht wurde. Das ich dennoch zu Ralf Rothmanns Erzählungsband Museum der Einsamkeit gegriffen habe, liegt vermutlich daran, dass mir sein Roman Gott jenes Sommers so ausgesprochen gut gefallen hat.
Neun Erzählungen enthält der Band. Es geht beispielsweise um einen Maurerlehrling, der eine Schauspielschülerin liebt, um das todkranke Kind eines Pfarrers, um eine albanische Haushälterin und ihre zwei Söhne, um neue Mieter, um die 6-jährige, die bei ihrem noch jüngeren Bruder babysitten soll, um einen Maurer mit Hüftleiden, um zwei Schulfreunde, um die Unterbringung einer Mutter in einer Seniorenresidenz und um die unterschiedlichen Blickwinkel eines Insassen und eines KZ-Lagerkommandanten auf dasselbe Ereignis.
Rothmann ist fasziniert von Geschichten. Für ihn ist das ganze Leben voller Geschichten. Wer einmal das Glück hatte ihn bei einer Lesung erleben zu dürfen, wird feststellen, dass der Autor aus jedem Erlebnis eine Geschichte macht. Jede Antwort ist eine druckreife kleine Geschichte. Ein Leben prallgefüllt mit Geschichten.
So vielschichtig das Leben ist, so vielschichtig sind auch die Erzählungen. Ein verbindendes Element sucht man vielleicht vergebens. Aber das muss es auch nicht geben. Rothmann stellt keine Sammelbände zusammen. Er schreibt einen Erzählungsband an einem Stück runter. Es sind die kleinen Zufälle des Lebens, die ihn zu seinen Geschichten inspirieren – manchmal ein Name, manchmal ein erster Satz.
Rothmann, der unter anderem mit dem Thomas-Mann-Preis ausgezeichnet wurde, trifft für jede seiner Geschichten den richtigen Ton. Mal ist er heiter, mal traurig. Besonders beeindruckt hat mich, dass es ihm gelingt in die Milieus, in denen seine Geschichten spielen, tief einzutauchen. Das muss auch nicht immer schön sein. Aber wenn er mich tief in die Atmosphäre einer Geschichte hineingezogen hat, dann kommt wieder mein Vorbehalt gegen Erzählungen zum Tragen: Bei den meisten Geschichten wollte ich mehr erfahren. Wie geht es weiter? Was machen die Protagonisten, nachdem Rothmann den Vorhang zur Bühne geschlossen hat?
Die tiefen Charakterisierungen der handelnden Personen überraschen. Denn trotz der Kürze seiner Geschichten – keine Erzählung weist mehr als rund 30 Seiten auf – wirken die Protagonisten dicht und glaubwürdig. Für mich eine Glanzleistung.
Ja, ich wollte von fast allen Charakteren noch mehr wissen. Aber zwischendurch ist so ein Sprint gar nicht so schlecht, wenn man nur Langstrecke gewöhnt ist. Ich werde es wieder tun. Zehn von zehn
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