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Durchgelesen und an der Pflichterfüllung gescheitert – Teil 87


Der neue Band der Hamburger Ausgabe der Werke von Siegfried Lenz beschäftigt sich mit seinen Novellen: „Das Feuerschiff“ (1960), „Ein Kriegsende“ (1984), „Schweigeminute“ (2008) und „Landesbühne“ (2009). Marcel Reich-Ranicki behauptete über seinen Freund Lenz, dass er ein geborener Sprinter sei, der sich in den Kopf gesetzt habe, er müsse sich auch als Langstreckenläufer bewähren. Mit der Hamburger Ausgabe begann ich mit Lenz als Langstreckenläufer. Er bewährte sich darin bereits ausgezeichnet. Umso gespannter war ich auf seine Sprints.


Das verbindende Element der vier Novellen ist das Thema „Pflichterfüllung“ – wie dieses auch in vielen Romanen von Lenz eine tragende Rolle spielt. Dabei hat jedes der vier Stücke seine ganz eigene Art mit dem Thema umzugehen.


Das Feuerschiff

Knallhart ist „Das Feuerschiff“, indem sich Kapitän Freytag und seine Besatzung gegen drei Ganoven zur Wehr setzen müssen, die die Besatzung des Feuerschiffs als Geisel nehmen. Während seine Crew den offenen Konflikt sucht, steht für Freytag nur die Pflichterfüllung im Vordergrund. Lenz entwirft einen packenden Thriller, in dem viele Konflikte offen zu Tage treten – beispielsweise die Auseinandersetzung Freytags mit seinem Sohn. In einem geschickten Psychospiel lässt Lenz auch immer wieder die Vergangenheit aufblitzen, in der Freytag schon einmal mit einer Ausnahmesituation konfrontiert war und seitdem vor allem in den Augen seines Sohnes als Feigling gilt.


Ein Kriegsende

Die beklemmende Novelle „Ein Kriegsende“ befasst sich mit den zentralen Themen des deutschen Autors: Flucht, Krieg und Pflichterfüllung. Wir laufen aus in die Ostsee mit einem Minensucher, der die Order hat Richtung Osten zu fahren, um Kriegsverwundete vor der heranrückenden Roten Armee zu retten. Dann der Funkspruch: Teilkapitulation. Sofort entstehen an Bord Diskussionen. Aufgeben? Nach Hause fahren? Die Kameraden im Osten im Stich lassen, dafür aber leben? Für den Käpt’n ist klar: Pflicht ist Pflicht. Es kommt zur Meuterei. Wieder einmal gelingt es Lenz eine sensible Situation ohne Wertung darzustellen. Was ihm viele Rezensenten vorwerfen, nämlich beliebig zu sein, erweist sich gerade bei einem Stück wie „Ein Kriegsende“ als wahre Größe. Denn Lenz begegnet beiden Standpunkten – Pflichterfüllung und Überlebenswille – mit großer Achtung. Das zeigt sich vor allem im Umgang der Mannschaft mit ihrem Käpt´n und umgekehrt. Respekt und Ehrlichkeit bis zum tragischen ende. Vielleicht die beste der vier, mit Sicherheit aber die deprimierendste Geschichte.


Schweigeminute

„Schweigeminute“ ist eine anrührende Liebesgeschichte, zwischen einem Schüler und seiner Lehrerin. Wir sehen den 18-jährigen Schüler Christian auf der Gedenkfeier für seine Lehrerin Stella Petersen. Lenz schildert ohne Vorwurf ihre Affäre. Er beschreibt sie aus der Sicht von Christian, lässt uns seine Leidenschaft und seine stürmischen Gefühle miterleben. Stella erleben wir, wie er sie sieht. Im Gegensatz zum 18-jährigen, verliebten Schüler können wir Leser bereits aus seinen Schilderungen ableiten, in welchen Konflikten sie steckt. Er kann es scheinbar nicht. Auf der einen Seite ihr Job, ihre Pflicht und auf der anderen Seite die verbotene Leidenschaft. Lenz gelingt es großartig ihren Zwiespalt nicht direkt offenzulegen, sondern ihn immer wieder durchblitzen zu lassen – durch die Augen eines 18-jährigen.


Landesbühne

Etwas aus der Reihe fällt „Landesbühne“ – eine Schelmengeschichte. Hannes und Clemens wagen mit ein paar Kumpels den Ausbruch aus dem Gefängnis. Dafür bedienen sie sich eines Busses der Landesbühne, die im Knast gerade eine Vorstellung gibt. In vergnüglichem Ton schildert Lenz, wie der Bus in Grünau landet und dort frenetisch willkommen geheißen wird. Kein Wunder, glaube die Dorfbewohner doch, das echte Ensemble der Landesbühne wäre vor Ort. „Landesbühne“ war für mich das Stück, bei dem ich den schwierigsten Zugang hatte. Es beginnt als Husarenstück. Als Schelmengeschichte, gewinnt im Laufe der Geschichte immer mehr an Tiefe und gegen Ende trägt sie Spuren, wie wir sie aus existentialistischen Stücken kennen – keiner kann aus seiner Haut. Auch nicht Hannes und Clemens, deren Freundschaft am Ende obsiegt.


Der dicke Band schließt mit ausführlichen Angaben zur Rezeption und Entstehungsgeschichte der einzelnen Novellen ab.


Fazit

Zurück an den Anfang: Lenz der geborene Sprinter? Lenz der zwanghafte Langstreckenläufer? Nach den vier Novellen kann ich zumindest sagen, dass die Sprints durchweg gut anzusehen waren – drei von ihnen haben mich so angesprochen, dass ich sie lautstark angefeuert habe und bei einem oder zweien wurde ich so mitgerissen, dass ich emotionalisiert vom Stuhl aufgesprungen bin. Sein Laufstil konnte zu jeder Phase überzeugen und alle Sprints waren unterhaltend. Es stellt sich deshalb tatsächlich nicht die Frage, ob Sprinter oder Langstreckenläufer. Bei Lenz gibt es kein Entweder-oder. Er ist ein begnadeter Erzähler, der sich in seinen Geschichten immer wieder zum Norddeutschen bekennt – zu den Menschen und zur Landschaft. Im Januar soll es – Stand heute – weiter gehen mit der Hamburger Ausgabe: „Die Klangprobe“. Ich freue mich schon.

Für den Novellenband gebe ich neun von zehn Sprintschuhe.

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