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Durchgelesen und viel diskutiert – Teil 182

  • berndhinrichs
  • vor 10 Minuten
  • 2 Min. Lesezeit

Lesen bedeutet auch immer sich in die Wirklichkeit von anderen Menschen hineinversetzen zu können. Sally Rooney wird mir schon seit einiger Zeit ans Herz gelegt. Nirgendwo sonst, so hieß es, wird die Lebensrealität junger Frauen besser dargestellt. Als dann auch Benedict Wells in seinem Buch Die Geschichte in uns nur lobende Worte für die irische Autorin fand, musste ich den Versuch unternehmen. Und das obwohl mich meine Buchhändlerin mit einem leicht säuerlichen Blick fragte „Rooney? Echt jetzt?“ – die Autorin hat nicht nur Fans. Gespräche mit Freunden hatte aber gute Kritiken erhalten – und vor allem bessere als Rooneys neuester Streich Intermezzo. Also hinein in die irische Gesprächskultur.


Rooneys Debütroman Gespräche mit Freunden erzählt die Geschichte der 21-jährigen Frances, einer scharfsinnigen und gleichzeitig emotional verunsicherten Literaturstudentin in Dublin. Gemeinsam mit ihrer charismatischen Ex-Freundin und besten Freundin Bobbi tritt sie regelmäßig bei Poetry Slams auf – ein intellektuelles Duo, das durch seine Schlagfertigkeit und Coolness besticht. Doch die scheinbar stabile Welt der beiden gerät ins Wanken, als sie das glamouröse Künstlerpaar Melissa, eine Fotografin und Essayistin, und ihren Ehemann Nick, einen Schauspieler, kennenlernen. Was zunächst als eine interessante soziale Konstellation beginnt, entwickelt sich bald zu einem vielschichtigen Beziehungsknäuel. Frances beginnt eine heimliche Affäre mit Nick, was nicht nur ihre Freundschaft zu Bobbi, sondern auch ihre Selbstwahrnehmung zunehmend ins Wanken bringt. Zwischen gesellschaftspolitischen Debatten, emotionaler Unsicherheit, stiller Eifersucht und innerer Zerrissenheit beginnt Frances, sich mit Fragen nach Nähe, Abhängigkeit, Liebe und Autonomie auseinanderzusetzen.


Benedict Wells lobte an dem Roman die Dialoge. Und schnell habe ich festgestellt, dass der Text nicht von dramatischen Höhepunkten lebt, sondern durch die feinen, geistreichen Gespräche der vier Freunde untereinander. Rooney erinnert da stark an die guten Woody Allen-Filme. Nur dass wir uns nicht im New York der 1970er-Jahre befinden, sondern in Dublin in der Gegenwart. Wie der amerikanische Filmmacher erweist sich die Autorin als Meisterin im Gespür für die richtige Pointe. Ihre Dialoge sind auf den Punkt und überaus scharfsinnig. Allein der letzte Satz des Romans ist unfassbar gut – das kann ich sagen ohne zu spoilern. Es wird viel zu viel über erste Sätze gesprochen. Rooney hat aus meiner Sicht einen der besten letzten Sätze geschrieben, den ich in den letzten Jahren gelesen habe – wundervoll emotional. Für ein Erstlingswerk ist das mehr als beachtlich – fast schon zu gut, um wahr zu sein.


Natürlich hat der Roman auch Schwächen. Die für mich augenscheinlichste ist das Beschwören des Altersunterschiedes zu Nick. Frances (21) verliebt sich in den 33-jährigen Nick und sie macht sich Gedanken über den Altersunterschied – das geht so weit, dass sie an ihrer Beziehung zweifelt. Das scheint mir nicht sehr realistisch für eine selbstbewusste junge Frau, wie Frances. Denn Nick ist keine 30 oder 20 Jahre älter. Der zweite Punkt, der mich ebenfalls durch das ganze Buch begleitet hat, ist Nicks und Melissas Verhalten. Ihre Art der Kommunikation, ihr ganzes Verhalten entspricht nicht dem von einem Paar um Mitte 30. Sie wirken beide viel älter. Doch trotz dieser beiden kleinen Schwächen sind die Charaktere bei Rooney stark gezeichnet. Sie wirken glaubwürdig und plastisch.


Gespräche mit Freunden ist eine kluge, intime Studie über junge Erwachsene, die sich zwischen Gefühl und Reflexion, Selbstschutz und Sehnsucht zurechtfinden müssen. Ich gebe neun von zehn Buchvorstellungen.

 
 
 

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