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berndhinrichs

Durchgelesen und auf einen Kaffee getroffen – Teil 94


Ich glaube jeder Mensch hat jemanden, mit dem er gerne mal einen Wein, ein Bier oder einen Kaffee trinken würde. Einen erfolgreichen Musiker, einen berühmten Schauspieler oder vielleicht einen Politiker. Denn wäre es nicht spannend einmal an einer Hotelbar mit einem leckeren Grauburgunder vor sich aus erster Hand zu erfahren, was beispielsweise Bruce Springsteen bei sich zuhause für Musik hört, wie Klaus Maria Brandauer über seine Kollegen denkt oder wie Joschka Fischer seine Zeit als Außenminister bewertet. Alles allemal einen Wein an der Hotelbar wert.


Für mich wäre der Schriftsteller Uwe Timm eine Person, die ich gerne mal auf einen Kaffee treffen würde. Der deutsche Autor war Mitglied in der Kommunistischen Partei, war eng befreundet mit Benno Ohnesorg und Teil der 68er-Generation. In seinem neuen Buch, „Alle meine Geister“ erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, lädt uns Timm auf eben diesen Kaffee ein. Denn das großartige an diesem Buch ist der Ton. Timm plaudert. Bewusst keine Autobiographie, eher ein Erinnerungsbuch. Er schildert in ihm seine Lehrjahre als Kürschner in Hamburg, im familieneigenen Betrieb, und wie er seinen Entschluss Schriftsteller zu werden, als junger Mensch begann in die Tat umzusetzen. Er greift immer wieder der Erzählzeit voraus, in dem er uns Einblicke gibt, welchen Einfluss bestimmte Situationen oder Bücher auf sein späteres Werk haben. „…Romane, durch die ich lesend wanderte, Salinger, Dostojewski, Thomas Mann, Henry Miller, Camus,….“. Es sind diese Einblicke in dem Buch, die Timm so nahbar machen.


Timm schaut zurück und schildert, wie er als Teenager die piefigen 1950er-Jahre erlebte und wir können erahnen, was es für den jungen, kommenden Schriftsteller bedeutete, die Aufbruchstimmung ab Mitte der 60er-Jahre mitzuerleben. Er lässt uns teilhaben, wie er seinen Weg zur Literatur gefunden hat. Daneben gibt uns Timm einen spannenden Einblick in das Kürschnerhandwerk. Welche Pelze werden von wem bestellt? Wie werden sie hergestellt? Was ist wertvoll? Und was ist chic? Und über allem: Immer wieder die unmittelbare Vergangenheit, der zweite Weltkrieg und die Nazis, die sich bis in Adenauers Kabinett retten konnten.


In „Alle meine Geister“ beschwört Timm die Menschen herauf, die ihn am Beginn seines Lebens beeinflusst haben. Wir lernen Typen kennen und auch Akteure, die es in späteren Jahren zu Ruhm geschafft haben. Timm erinnert sich unmittelbar beim Schreiben seines Textes an sie. Er lässt uns teilhaben an seiner Internetrecherche nach längst vergessenen Namen. Und bei allem hält er seinen Plauderton bei. Selbst wenn er eintaucht in die Literatur, eine Interpretation von Salingers „Fänger im Roggen“ liefert, Gottfried Benns Lyrik oder den Einfluss des Existenzialismus von Camus und Sartre analysiert. Ich bin ihm gerne gefolgt und habe mir seine Sichtweise angehört.


Auf der Internetseite von Kiepenheuer & Witsch heißt es, dass Uwe Timm gesagt habe, von ihm würde es nie eine Autobiografie geben. Das mag sein und in „Alle meine Geister“ bricht er leider ab, als er dem Kürschnerleben den Rücken zudreht und in Braunschweig sein Abitur nachholen möchte. Das ist sehr schade, aber Timm hat hoffentlich noch viel Zeit vor sich und ich würde mich sehr freuen, wenn er für eine Fortsetzung noch einen weiteren Kaffee für uns bestellen würde. Ich gebe zehn von zehn Nutriamäntel.

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1 Comment


Britta Meyer
Nov 05, 2023

Hat mir sehr gefallen.

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