Durchgelesen und Caroline Wahl entdeckt – Teil 193
- berndhinrichs
- 21. Sep.
- 3 Min. Lesezeit

Erstkontakt mit einer gefeierten Stimme
Gerade ist ihr neuer Roman Die Assistentin erschienen – und es ist im Feuilleton fast unmöglich, Caroline Wahl zu entkommen. Die sympathische 30-jährige Autorin, Wahl-Kielerin und fleißige Instagramerin, ist allgegenwärtig. Mit ihrer frischen Art sorgt sie für einigen Wirbel im Blättermarkt, und ich habe immer ein bisschen das Gefühl, sie wischt den Staub und den Muff vieler Jahre mit einem Lächeln hinfort. Kluge Marketingkampagne kann man mir entgegenrufen – und das stimmt sogar –, aber dennoch bleibt der Eindruck, hier eine junge Frau vor sich zu haben, die mit ihrem unkonventionellen Stil eine neue Leserschaft ansprechen kann.
Erstaunlich, dass ich mir nie ein Buch von ihr vorgenommen habe. 22 Bahnen ist der erste Versuch. Ob es funkt?
Worum geht’s?
Tilda, Anfang 20 und Mathematikstudentin, lebt in einer Kleinstadt. Sie jongliert Studium, Nebenjob an der Supermarktkasse und die Rolle als Ersatzmutter für ihre 10-jährige Schwester Ida, während ihre alkoholkranke Mutter nur bedingt präsent ist. Ihr Ritual, das ihr Ruhe verschafft, ist das abendliche Schwimmen – exakt 22 Bahnen pro Tag.
Dann taucht Viktor auf, ein charismatischer Rückkehrer – und Tilda spürt: Mit ihm könnte sich ihr Leben ändern. Gleichzeitig erhält sie ein interessantes Angebot, ihr Studium in Berlin abzuschließen. Im Fortgang der Geschichte verbindet Wahl Vergangenheit und Gegenwart miteinander – etwa im Tod eines Freundes, der zwischen den Zeilen immer wieder präsent ist.
Hin- und hergerissen zwischen der Verantwortung für ihre Schwester und den Träumen einer jungen Frau versucht Tilda, ihr Leben in die richtige Bahn zu lenken.
Kein Kitsch, kein Klischee
Zunächst das Wichtigste: Wer den Plot von 22 Bahnen liest, kommt vielleicht zu dem Schluss, dass es sich um einen kitschigen Coming-of-Age-Roman handelt. Coming-of-Age – ja, kitschig – nein. Die Autorin schafft es, den schmalen Grat nie abzurutschen.
Die Liebesgeschichte – oder besser: das zarte Annähern – zwischen Tilda und Viktor ist fein erzählt: voller Poesie, feinfühlig, ohne dabei eine der Figuren der Lächerlichkeit preiszugeben. Und nicht oft hat mich am Ende eines Romans ein einfacher Satz so stark berührt wie hier:„Ich küsse ihn und eine große Last fällt von mir ab, weil ich jetzt weiß, dass das kein Abschied ist, sondern eine Ankunft.“ So simpel – und so wunderschön.
Ein nüchterner Blick auf eine kaputte Mutter
Der zentralste Punkt des Romans ist die Alkoholkrankheit der Mutter. Mir hat der Umgang damit im Roman sehr gefallen. Natürlich verachten Tilda und Ida ihre Mutter dafür, was sie ihrer kleinen Familie antut: Sie wird belächelt und nicht ernst genommen. Aber dennoch spürt man auch da Fürsorge und Mitmenschlichkeit. Sie ist ein gebrochener Mensch – und genauso wird sie auch dargestellt, ohne romantische Beschönigung. Sie ist, was sie ist: eine alkoholkranke Mutter von zwei Mädchen, die sich nicht auf sie verlassen können.
Und das kann Wahl in einer sehr nüchternen und stilistisch ungewohnten Art ausdrücken. Bemerkenswert beispielsweise ihre Dialoge, die wie im Theater ohne Schnörkel auskommen. Es wird der wörtlichen Rede stets nur der Name des sprechenden vorangestellt. Ohne Umschweife auf den Punkt!
Fazit
22 Bahnen war mein erster aber nicht letzter Roman von Caroline Wahl. Sie schreibt mit Klarheit, Wärme und einem sehr feinen Gespür für Dialoge, ohne je gefällig zu werden. Sie schenkt ihren Figuren Würde, auch wenn sie kämpfen, auch wenn sie scheitern. Vielleicht ist das das Beste, was man über diesen Roman sagen kann: Er urteilt nicht, sondern beobachtet – und lässt einen dabei nicht kalt. Für mich war das ein überzeugender erster Kontakt mit einer Autorin, die offenbar noch einiges vorhat. 10 von 10 Radieschen.
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