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Durchgelesen und im Verfall gelebt – Teil 202

  • berndhinrichs
  • 23. Nov.
  • 2 Min. Lesezeit


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Wie Barbara Kingsolver auf meinen Radar kam


Barbara Kingsolvers Roman Die Unbehausten wurde von Daniel Kaiser im Podcast eat.READ.sleep so leidenschaftlich gelobt, dass ich neugierig wurde. Dabei akzeptiere ich fremde Meinungen zu Büchern kaum. Meist will ich selbst entdecken, was zwischen den Zeilen steckt, ohne vorgeprägte Erwartung. Doch diesmal blieb etwas hängen in seiner Begeisterung – ein Ton von Ernsthaftigkeit und Wärme, der mich vermuten ließ: Dieses Buch könnte mehr sein als nur ein weiterer Roman über das Scheitern in schwierigen Zeiten.


Zwei Zeitebenen – zwei Leben – eine gemeinsame Krise


Barbara Kingsolvers Roman verwebt zwei Zeitebenen, zwei Leben und zwei Krisen, die mehr verbindet, als sie trennt. Die eine spielt im heutigen Amerika. Dort lebt Willa Knox, eine Frau um die Fünfzig, die spürt, wie ihr Leben langsam aus den Fugen gerät: Das Magazin, für das sie schrieb, wurde eingestellt, das Haus, das sie geerbt hat, verfällt, ihr Mann Iano hangelt sich als College-Dozent von Zeitvertrag zu Zeitvertrag, ihr Schwiegervater ist ein pflegebedürftiger Tyrann, der Donald Trump verehrt, und die Kinder tragen ihre eigenen Verwundungen in der Enge der Familie. Ihr Sohn hat gerade seine Frau verloren durch Suizid und steht mit einem Neugeborenen alleine da und ihre Tochter sucht noch nach dem Sinn des Lebens. Willa versucht, Haltung zu bewahren, Ordnung zu schaffen, wo längst nichts mehr trägt. Doch die Fassade bröckelt: das marode Haus ist Sinnbild für ein ganzes Leben, das sich in Auflösung befindet.Parallel dazu führt uns Kingsolver ins Jahr 1871, in denselben Ort – Vineland, New Jersey. Dort kämpft der Naturwissenschaftler Thatcher Greenwood um die Anerkennung Darwins evolutionärer Erkenntnisse. In einer puritanischen, von Dogmen geprägten Gesellschaft steht er zwischen Überzeugung und Anpassung, zwischen Wahrheitssuche und sozialem Druck. Wie Willa ist er ein Mensch, der an der Starrheit seiner Zeit scheitert, weil er zu sehr an die Vernunft glaubt.


Dialoge voller Witz, Tiefe und Menschlichkeit


Was mich beim Lesen besonders beeindruckt hat, sind die Dialoge. Sie sind spannend, witzig und intellektuell – getragen von einem klugen, manchmal ironischen, aber immer empathischen Ton. Als Leser fühlt man sich fast wie ein Voyeur dieser Gespräche: man sitzt mit am Tisch, lauscht, möchte sich einmischen. Es entsteht eine seltsame Sehnsucht, sich mit solchen Menschen zu umgeben – mit Menschen, die denken, zweifeln, fühlen und sich ehrlich über die großen Fragen unserer Zeit austauschen.


Gegenwart vs. Vergangenheit – warum beide Ebenen funktionieren


In der Rezension von Katharina Mahrenholtz bei eat.READ.sleep hieß es, sie hätte lieber mehr über die Gegenwartshandlung erfahren. Das sehe ich anders. Für mich sind beide Zeitebenen fesselnd erzählt – die Gegenwart mit ihren sozialen Brüchen ebenso wie die Vergangenheit mit ihrem Kampf um Erkenntnis und Aufklärung. Beide spiegeln einander, wie zwei Schichten derselben Wahrheit: dass Fortschritt und Bewahrung keine Gegensätze sein müssen, sondern ein fortwährendes Gespräch zwischen Vergangenheit und Jetzt.


Fazit: Ein Roman über Wahrheit, Haltung und eine brüchige Welt


Die Unbehausten ist ein unterhaltsamer, intelligenter Roman über die Fragen der Zeit. Vielschichtig, klug und menschlich. Ein Roman über das Ringen um Wahrheit, Haltung und Zugehörigkeit in einer brüchigen Welt. 10 von 10 Renovierungspunkten.

 
 
 

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