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berndhinrichs

Durchgelesen und Deutschland 1943 erlebt – Teil 90


Das Buch des Jahres 2021 war für mich Florian Illies „Liebe in Zeiten des Hasses“. In seinem mehr als bemerkenswerten Sachbuch schildert Illies mitreißend die Liebes- und Lebenswege einiger Interlektueller zwischen 1929 und 1939. Von der Familie Mann, über die Dietrich bis hin zu Nabukov. Immer in kurzen Abschnitten. Im Mittelpunkt seiner teils ironisch formulierten Betrachtungen: das Liebesleben. Meine Gedanken zu diesem Buch findet Ihr hier!


Der Historiker Oliver Hilmes liefert in seinem Werk „Schattenzeit – Deutschland 1943: Alltag und Abgründe“ (erschienen im Siedler Verlag und in der Büchergilde Gutenberg) ein ähnlich gestricktes Sittengemälde. Er verfolgt die Lebensereignisse verschiedener Persönlichkeiten – von Victor Klemperer bis Thomas Mann – im Jahr 1943. Das Jahr in dem die 6. Armee in Stalingrad aufgerieben wurde, Goebbels die Rede seines Lebens im Sportpalast hielt und Hans Albers auf einer Kugel als Münchhausen durch die Ufa-Paläste flog. Immer eingewoben in die Erzählungen sind Zitate aus den geheimen Lageberichten des Sicherheitsdienstes der SS, Luftangriffsprotokolle und neue Verbote für die deutsche Bevölkerung. So entsteht ein sehr dichtes Bild aus dem Alltagsleben im Deutschen Reich zehn Jahre nach der Machtergreifung.



Im Mittelpunkt des Sachbuchs steht Karlrobert Kreiten, ein 1916 in Bonn geborener Pianist, der mit seinen 27 Jahren die ganze Brutalität, Absurdität und Willkürlichkeit des NS-Regimes zu spüren bekam. Kreiten hatte sich bei einem Nachmittagstee bei einer Freundin seiner Mutter zu sehr in Rage geredet, wurde denunziert und geriet in die Mühlen der NS-Justiz. Am Fall Kreiten rollt Hilmes die ganzen Zufälligkeiten auf, die über ein Leben entscheiden. Am Ende wurde der junge Pianist in Plötzensee hingerichtet, obwohl er von allen Zeugen als absolut unpolitische beschrieben wurde, obwohl der bedeutende Dirigent Wilhelm Furtwängler zum Bekanntenkreis seiner Familie gehörte und obwohl Kreiten selbst fürs Winterhilfswerk der Nazis Wohltätigkeitskonzerte gab. Es half alles nichts.


In der Darstellung des Einzelschicksals entblößt Hilmers ein System. Die Geschichte Kreitens zu lesen ist nichts für Zartbesaitete. Die Art und Weise, wie Hilmes vorgeht, Briefe seiner Mutter zitierend, Kreitens eigenen Äußerungen wiedergebend, mitgeschnittene Telefonate – die Gestapo hat alles festgehalten und nicht alles vernichten können – lässt uns unmittelbar teilhaben am Schicksal der Familie. Wir lassen uns ebenso beruhigen wie sie, wir zittern ebenso wie die Mutter, überlegen uns Strategien wie der Vater und warten auf das Ende dieser unsinnigen Affäre, wie Karlrobert. Und als wir gegen Ende des Buches mit ihm zusammen den Gang zum Galgen gehen, sind wie fassungslos.


In den geheimen Lageberichten des Sicherheitsdienstes der SS heißt es nach der Hinrichtung Kreitens und seiner öffentlichen Darstellung in den Zeitungen: „Die in den letzten Tagen in der gesamten Presse veröffentlichten Notizen über die Todesurteile die gegen Defaitisten gefällt wurden, finden in allen Kreisen immer stärkere Beachtung. Es sei erfreulich, so werde bemerkt, dass hier endlich einmal durchgegriffen wird und dass man nicht nur den kleinen Mann bestrafe“.

Ich gebe zehn von zehn Spitzel.

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