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berndhinrichs

Durchgelesen und dunkle Mauern in England entdeckt – Teil 137





Meine erste Berührung mit Helmut Krausser hatte ich sinnigerweise erst unmittelbar nach meinem Germanistikstudium. Zur Feier anlässlich meines Abschlusses bekam ich von zwei Kommilitoninnen das Buch Thanatos geschenkt. Krausser? Nie gelesen! Ich begab mich dann auf eine Entdeckungsreise und war fasziniert. Seitdem habe ich fast jede Neuerscheinung von ihm gefeiert und wundere mich bis heute, warum Krausser nicht viel mehr im Rampenlicht des deutschen Literaturbetriebes steht.


In seinem neuesten Werk Freundschaft und Vergeltung entführt uns Krausser in das England der 1960er-Jahre. Der Protagonist Anthony Brewer, ein angehender Absolvent des südenglischen Colleges Raven Hall, führt uns als Ich-Erzähler durch eine dichte, atmosphärische Handlung. An der Seite des verwöhnten Chris Bradshaw, Sohn eines einflussreichen Gönners der Schule, wird Brewer in ein Geflecht aus Geheimnissen und Intrigen verwickelt. Chris' Vater, John Bradshaw, hatte eine Affäre mit der atemberaubenden Lehrerin Deborah Rodgers, was Chris dazu veranlasste, diese Beziehung für seine eigenen Zwecke zu nutzen und Deborah zu erpressen. Mitten im Schuljahr kommt es zu mysteriösen Vorfällen: Vier Personen verschwinden spurlos, und Brewer, der diese Geschehnisse nicht aus dem Kopf bekommt, begibt sich Jahre später als pensionierter Anwalt auf die Suche nach der Wahrheit.


Krausser spinnt eine packende Geschichte um Loyalität, Verrat und die Schatten der Vergangenheit. Verantwortlich dafür ist in erster Linie die unmittelbare Nahbarkeit der Geschichte, die der Autor über seine Erzählweise erreicht. Im ersten Teil des Buches wird uns die Geschichte anhand von verschiedenen Augenzeugenberichten erzählt. Brewer fasst in ihnen die Ergebnisse seiner jahrelangen Recherche zusammen – er sprach mit ehemaligen Lehrern und anderen Zeitzeugen. Das schafft Nähe zum Tathergang und zieht den Leser tief in die Ereignisse. Dabei gelingt Krausser von den ersten Seiten an eine zutiefst morbide Grundstimmung. Seine Sprache, die Art, wie er Ereignisse schildert vor allem die Beschreibung von Raven Hall, lassen Bilder im Kopf des Lesers entstehen. Bilder von dunklen Gängen, alten Gemäuern und verborgenen Geheimnissen – inklusive einer verfallenen Kapelle.


Klingt alles nach Klischee? Mitnichten! Was den Unterschied macht ist Erzählweise und Sprache und das macht aus dem Werk mehr als bloß einen Kriminalroman. Der Lösung des Falls kommt der Leser nicht nahe. Er hat gar keine Chance dazu. Zu verwirrend die Geschehnisse, zu widersprüchlich die Informationen, die er mitgeteilt bekommt. Stattdessen möge er sich zurücklehnen, die Atmosphäre aufsaugen und dem Gang der Dinge folgen.


Die Internatsgeschichte hat mich begeistert, eben weil sie bis zum Ende spannend bleibt und darüber hinaus. Leser die in klassischer Krimi-Manier einen aus dem Hut gezogenen Täter erwarten, werden enttäuscht sein. Krausser entlässt den Leser ins Dunkel seiner eigenen Mutmaßungen. Ich gebe zehn von zehn JackJoJims und werde mir mal einen älteren Roman von Krausser wieder vornehmen. 

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