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Durchgelesen und eine Milf kennengelernt – Teil 172

  • berndhinrichs
  • vor 1 Tag
  • 2 Min. Lesezeit



Während meiner Buchhändlerlehre konnte ich an einem Lehrgang überbetriebliche Ausbildung an den Schulen des Deutschen Buchhandels teilnehmen. Neben vielen Marketing- und Betriebswirtschaftskursen gab es auch einen Überblick über die Literaturgeschichte ab Nietzsche. Der Referent legte Wert auf die Verbindung von Literatur und Psychoanalyse, beginnend mit Siegmund Freud, in der Moderne. Klar haben wir viel über Arthur Schnitzler gesprochen, der als der literarische Arm des österreichischen Nervenarztes gilt. Umso erstaunlicher, dass es über 30 Jahre dauerte, bis ich die erste Novelle von Schnitzler gelesen habe: Frau Beate und ihr Sohn.


Der 1913 veröffentlichte Text Frau Beate und ihr Sohn stellt die verwitwete Frau Beate in den Mittelpunkt. Nach dem Tod ihres Mannes, fokusziert sie sich auf ihren Sohn Hugo. Dieser entwickelt sich allerdings zunehmend zu einem selbstbewussten jungen Mann, der seinen eigenen Weg gehen will. Eifersucht und die Angst vor dem Verlust ihrer dominierenden Rolle in seinem Leben nehmen zu. Während eines Urlaubes in den Bergen spitzt sich die Situation zu, als Fritz, ein Schulfreund Hugos, das Duo besucht. Gleichzeitig sieht sich Frau Beate im Mittelpunkt des Interesses von verschiedenen Männern. In dieser Melange aus Eifersucht und erotischer Spannung geht sie ein Verhältnis mit Fritz ein. Hugo erfährt davon und in einer dramatischen Nacht endet eine Ruderpartie in der Katastrophe.

Beim Lesen der Novelle habe ich mich öfters gefragt, ob Schnitzler diese Geschichte ernsthaft gelesen haben will oder ob es eine Satire ist. Zu überdreht sind die Emotionen, die Frau Beate durchlebt, zu schwülstig seine Sprache. Dabei darf aber nicht vergessen werden, wann die Novelle veröffentlicht wurde. Sie ist über 110 Jahre alt. Unter heutigen Begrifflichkeiten würde Frau Beate als Milf tituliert werden. Sie zieht die Blicke junger Männer auf sich. Ihre Gefühle sind wechselhaft. Mal lehnt sie das Werben ab, mal geht sie darauf ein.


Neben diesem Milf-Aspekt ist Frau Beate und ihr Sohn eine eindringliche und feinfühlige Erzählung über die komplexe Dynamik zwischen Mutter und Sohn. Schnitzler beschreibt die psychologischen Feinheiten der Beziehung, insbesondere Beates Eifersucht und Verlustangst, als ihr Sohn Hugo sich zunehmend von ihr abnabelt. Die Novelle beeindruckt durch ihre präzise Charakterzeichnung und den leisen, aber intensiven Spannungsaufbau. Ganz novellenmäßig beschränkt sich Schnitzler auf einen überschaubaren lokalen Raum, in dem die Handlung spielt. Sein Fokus liegt offensichtlich in der Ausarbeitung der Charaktere. Was vielleicht für spannungsgetriebene Leser langatmig und statisch wirken kann, ist eine großartige Psychoanalyse unterschiedlicher Beziehungsverhältnisse.


Ich habe eine wunderschöne Ausgabe der Novelle von 1922 antiquarisch erstanden. Nicht nur deshalb hatte ich viel Spaß mit dem Text. Das war definitiv nicht die letzte Novelle des österreichischen Schriftstellers. Zehn von zehn Teichmanns.

 
 
 

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