Durchgelesen und eine zweite Chancen folgen lassen – Teil 197
- berndhinrichs
- vor 8 Minuten
- 2 Min. Lesezeit
Zwischen Lokalpatsriotismus und Longlist

Zwei Gründe haben mich zum neuen Buch von Feridun Zaimoglu Sohn ohne Vater greifen lassen. Einerseits wurde es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises aufgenommen und andererseits ist der Autor Kieler – so viel Lokalpatriotismus muss sein. Die Buchhändlerin, die es mir als „Beikauf“ in die Hand drückte, schwärmte von großen Emotionen, Tränen und Lachen beim Lesen.
Eine Reise zwischen Deutschland und Türkei
In Zaimoglus Roman geht es um einen Ich-Erzähler, bei dem die Nachricht vom Tod seines Vaters ein inneres Beben auslöst. Der Vater stirbt in der Türkei, die Mutter wartet dort, doch die Entfernung scheint unüberwindbar. Nicht nur geografisch, sondern auch seelisch. Flugangst fesselt ihn an den Boden, und so bleibt nur der Weg auf der Straße: mit einem geliehenen Wohnmobil, begleitet von Freunden, fährt er von Deutschland über Österreich und Ungarn bis tief hinein in die Türkei. Die Fahrt wird zum Roadmovie wider Willen – eine Reise durch Landschaften, Grenzen und Nächte, die zugleich eine Reise in die eigene Vergangenheit ist. In den langen Stunden auf den Autobahnen steigen Erinnerungen auf: Bilder des Vaters, der als Gastarbeiter nach Deutschland kam, der zwischen zwei Welten lebte, der schwieg und prägte, an- und abwesend zugleich.
Sprachrausch und erzählerische Brüche
Ich habe den Roman schon fast euphorisch begonnen. Und die ersten Seiten gaben mir Recht. Was für ein guter Plot und stark erzählt. Allerdings machte mich das Buch zunehmend ratlos. Je tiefer ich in den Text einstieg, um so mehr wunderte ich mich darüber, dass er es auf die Longlist geschafft hat. Der Roman wirkt, als habe Zaimoglu ihn im Zustand eines permanenten Rauschs geschrieben: die Sprache fließt taumelnd, fiebrig, ungebremst. In den Rückblenden zum Vater erreicht der Text seine größte Kraft – hier verdichtet sich die Erinnerung, hier liegt die emotionale Wucht. Die Rahmenhandlung dagegen, als Roadmovie angelegt, trägt kaum. Figuren tauchen auf, jede schriller als die vorige, und verschwinden gleich wieder. Bei dieser Fülle habe ich schnell den Überblick verloren – es ermüdet, und schließlich sind einem die Gestalten gleichgültig.
Vertane Chancen und verpasste Tiefe
Ich denke, Zaimoglu hat eine große Chance vertan. Denn ich hätte gerne noch viel mehr vom Leben einer türkischen Gastarbeiterfamilie in den 1960er- und 70er-Jahren erfahren. Das sind die Stellen, in denen er überzeugt. Alles in allem nehmen sie aber zu wenig Raum im Roman ein, deshalb nur 5 von 10 Pakete.
Zweite Chance nach der Lesung
Nachtrag: Nachdem ich den Autor in einer Lesung gehört habe, habe ich vielleicht doch noch einen Zugang zum Text bekommen. Die Art, wie er seinen Text gelesen hat, war sehr überzeugend. Das Buch wird in jedem Fall eine zweite Chance bekommen.
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