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Durchgelesen und literarische Unabhängigkeit entdeckt – Teil 196

  • berndhinrichs
  • vor 21 Minuten
  • 3 Min. Lesezeit

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Zwischen Hype und Realität – Caroline Wahl im Fokus


Ich habe Caroline Wahl gelesen – 22 Bahnen und Windstärke 17 gehörten für mich zu guten deutschsprachigen Debüts: klare Sprache, Figuren mit Rissen, ein feines Gespür für leise Dramatik. Wahl ist gerade in aller Munde; auf Lesungen und auf Instagram wirkt sie empathisch und sympathisch, aber auch wie jemand, der genau weiß, wie er sich vermarkten muss. Umso gespannter war ich auf Die Assistentin, ihr drittes Buch, das in vielen Rezensionen deutlich kritischer aufgenommen wurde. Manche fanden es überambitioniert, andere schlicht anstrengend. Für mich war das eher ein Grund, neugierig zu werden.


Macht, Abhängigkeit und das System Verlag


Worum geht es? Charlotte, die eigentlich Musikerin werden möchte, fängt eine Stelle als Assistentin der Geschäftsführung in einem Münchener Verlag an. Schnell merkt sie, dass der Verlagsleiter ein sehr schwieriger Mensch ist. Er verlangt von seiner Assistenz aufopferungsvollen Einsatz. Er ruft sie am Wochenende und am Feierabend an, erwartet von ihr die Koordination seiner privaten Termine und ist in seinem Verhalten absolut unberechenbar: Zwischen den höchsten Lobeshymnen und verheerenden Wutausbrüchen liegt oft nur eine Sekunde. Die Belastung nimmt für Charlotte dramatische Züge an und schlägt auf ihre Gesundheit. Sie lernt Bo kennen, der versucht, ihr zu helfen, aus dem toxischen Arbeitsumfeld zu fliehen. Charlotte ist aber bereits zu tief verstrickt. Persönlicher Anspruch, Erwartungen ihrer Eltern und Unsicherheit treiben sie immer tiefer in die narzisstische Welt ihres Chefs.


Zwischen Anpassung und Selbstverlust


Ein spannendes Thema hat sich Caro Wahl für ihren dritten Roman ausgesucht. Und die Charakterisierung des Chefs gelingt vortrefflich. Ich habe viele Eigenschaften und Handlungsschemata wiedererkannt, die mir in meinem Berufsleben bereits begegnet sind. Die leisen Gesten, die ständigen kleinen Herabwürdigungen – sie machen das Arbeiten zermürbend, und man merkt erst spät, dass man längst im Hamsterrad gefangen ist. Denn es sind nicht die großen Demütigungen, sondern die kleinen Gesten, die sich summieren. Ich würde daher auch vielen Rezensenten widersprechen, die den Roman als feministische Literatur deuten. Charlotte ist eine Frau, ohne Frage, aber das Schicksal, das sie ereilt, kennen viele Menschen – und es ist absolut geschlechtsunabhängig.


Struktur, Stil und erzählerischer Mut


Der Roman ist ganz besonders aufgebaut. Dialoge, die ähnlich wie in einem Theaterstück funktionieren, kannte ich ja bereits von den beiden Vorgängerromanen. Das treibt die Story schnell voran und sorgt für Erzähltempo. Neu waren die vielen Wiederholungen, die ganz bewusst von der Autorin gesetzt wurden – Wörter, Begriffe oder auch Sätze. Damit wird dem Leser die Monotonie ihres Lebens noch deutlicher. Neu war auch, dass Wahl nicht chronologisch erzählt. Sie springt in den Zeiten, blickt immer wieder auf das, was noch kommt, und der Text ist durchzogen von düsteren Andeutungen: „Dazu würde es nie kommen ...“, „Wenn sie gewusst hätte …“ etc.


Dunkelheit statt Wohlfühlmoment


Überrascht hat mich auch die Dunkelheit des Textes. Gut, die Vorgänger waren auch nicht heiter – eine Alkoholikerin als Mutter, Schuldkomplexe, alles keine leichten Themen. Aber als Leser musste ich meine bequeme und angenehme Wohlfühlzone nicht verlassen, denn Wahl stellte den Protagonistinnen immer einen verständnisvollen Partner an die Seite. Den gibt es bei dem neuen Werk mit Bo zwar auch, aber Charlotte lehnt ihn ab. Sie ist allein. Sie löst ihre Probleme weitestgehend auch allein. Das zeichnet sie aus, schafft aber gleichzeitig eine düstere und hoffnungslose Atmosphäre, die den ersten Romanen fehlt und die sich erst ganz am Ende des Romans auflöst.


Ein mutiger Schritt in die literarische Eigenständigkeit


Ob er qualitativ hinter ihren ersten beiden Romanen steht? Ich würde sagen: nein. Wer 22 Bahnen und Windstärke 17 gefeiert hat und diese Texte als ultima ratio der modernen Literatur sieht, wird von Die Assistentin sicherlich enttäuscht sein. Ich kann mir gut vorstellen, dass die „Caro-ist-so-cool-Gemeinde“ in den sozialen Medien von diesem neuen Text abgeschreckt ist. Für mich hat sie mit ihm einen bedeutenden Schritt in Richtung literarischer Unabhängigkeit getan. Ich gebe acht von zehn Bowls.

 

 
 
 

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