Ich gestehe es besser gleich am Anfang. Ich hatte weder von Jonathan Coe gehört, noch hatte ich eines seiner Bücher gelesen. Sein neuer Wurf „Bournville“, erschienen im Folio Verlag, ist auf meinem Lesetisch aufgrund einer Empfehlung aus dem Freundeskreis gelandet. Schon beim Hineinblättern stieß ich auf einen Stammbaum, der erahnen ließ, dass der Roman Teil einer Reihe ist. Die gute Nachricht: Er lässt sich auch prima lesen, ohne die anderen Bücher zu kennen, die scheinbar nur sehr lose zusammenhängen.
Erzählt wird die Geschichte mehrerer Familien aus Südengland. Der 62-jährige Coe nimmt uns mit in die Lebenswirklichkeit der englischen Mittelschicht. Anhand von sieben historischen Daten, blättert er die Geschichten von Menschen auf: Vom Ende des Zweiten Weltkrieges (1945), der Krönung Elisabeth II (1953) über das Finale der Fußballweltmeisterschaft (1966) und der Investitur Prinz Charles (1969), bis hin zur Hochzeit von Charles und Diana (1981), der Beisetzung Dianas (1997) und den Feierlichkeiten zum 75. Jahrestags des Kriegsendes (2020).
Es begann mit dem Zweiten Weltkrieg und es endete auch mit ihm. Coe liefert mehr als einen Familienroman – er liefert eine Geschichte, die „very british“ ist und anhand historischer Ereignisse die englische Gesellschaft seziert. So hat sich etwa mehr als in Deutschland, vermutlich mehr als in jedem anderen europäischen Land, in England der Zweite Weltkrieg in die Volksseele eingebrannt. Vieles aus dem englischen Selbstverständnis leitet sich davon ab. Von der allgegenwärtigen Skepsis gegenüber dem Kontinent bis hin zur dramatischen Überspitzung sportlicher Ereignisse – so ging es 1966 in Wembley nicht um Fußball, es ging darum, Deutschland zum dritten Mal zu besiegen (!).
Engländer und Deutsche: Ein ganz besonderes Verhältnis – auch für Coe in seinem Roman. Nicht nur dass das englische Königshaus, dem der Schriftsteller außergewöhnlich viel Raum einräumt in seinem Roman, deutsche Wurzeln hat und bis 1917 noch einen deutschen Namen trug, auch der Stammbaum der Protagonisten weist einen deutschen Ast auf. Der Roman ist für deutsche Leser an vielen Stellen erhellend, denn Coe erklärt englisches Selbstverständnis. Das ist mal lustig, mal spannend und auch melancholisch, nur eines ist es nie: langweilig.
Erhellend war etwa für mich die Bedeutung des Filmhelden James Bond. Klar, gute Filme, die spannend sind. Aber welche Bedeutung sie vor allem in den depressiven Thatcher-Jahren hatten, kann sich vermutlich niemand hierzulande vorstellen. Coe schreckt auch vor schwierigen Themen nicht zurück: Der englische Patriotismus, der gerne auch mal in einen destruktiven Nationalismus abgleiten kann, thematisiert er ebenso, wie den latenten Rassismus in der englischen Gesellschaft. Gerade letzteren entlarvt er mit einem schriftstellerischen Kunstgriff, demaskiert seine hässliche Fratze in einer Art, die ich leider nicht detailliert schildern kann, ohne zu spoilern. Leider! Aber ein Grund den Roman zu lesen.
In einer lockeren, leicht verständlichen Sprache bietet „Bournville“ Lesegenuss nicht von der hochanspruchsvollen Art, aber sehr kurzweilig und lehrreich. Acht von zehn Union Jacks.
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