Am Vorabend Frankfurter Buchmesse wird traditionell der Deutsche Buchpreis vergeben. Dieses Jahr nahm ich das erste Mal via Stream teil. Mit Clemens Meyers Roman Die Projektoren hatte ich einen Favoriten unter den letzten sechs. Der Rest ist Kulturgeschichte: Meyer bekam den Preis nicht und polterte daraufhin, dass das eine Schande sei. Über die Art und Weise seiner Unmutsbekundungen darf gerne gestritten werden, über den Fakt, dass er den Preis verdient hätte, sicherlich nicht. Denn mit Die Projektoren legt Meyer ein Epos vor, dass seines gleichen sucht. Schauen wir uns einmal die Beweismittel hierzu an.
Am Anfang steht die Frage, worum geht es in dem 1040 Seiten starken Buch geht. In groben Zügen geht es um Europa in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart. Es geht um Jugoslawien, bzw. die Staaten, die sich auf dem Gebiet der ehemaligen sozialistischen Republik befinden. Es geht auch um Karl May und die Filme über seine Romane, die eben dort gedreht wurden. Es geht um neue und alte Faschisten und Krieg und Gewalt. Wir lernen beispielsweise den Cowboy kennen, der als Kind für die Partisanen Nachrichten übermittelte, später bei Tito in Ungnade fiel und wie ein Beobachter die Kriegsschauplätze Europas miterlebte. Wir lernen eine Schar Psychotherapeuten kennen, die alles und jeden behandeln und ein paar Neofaschisten aus Dortmund, die als Freiwillige in den Jugoslawienkrieg einziehen.
Meyer erzählt in seinem Roman 1.000 Geschichten mit 1.000 Personen – ein schier unübersichtliches Personentableau. Hinzu kommen viele Zeitebene, zwischen denen der Autor schamlos und ununterbrochen hin und her springt – teilweise innerhalb eines Satzes. Apropos Satz: Wer ausschließlich von Punkt zu Punkt liest, wird an dem Buch keine Freude haben, denn Sätze, die über fast eine Seite gehen, können durchaus vorkommen. Dafür entschädigt der Erzähler mit einem abwechslungsreichen Potpourri an Erzähltechniken: Szenen, in denen lediglich wörtliche Rede als Dialog wiedergegeben wird, lange innere Monologe, Traumsequenzen oder klar strukturierte klassische Erzählszenen.
Oft wechselnde Szenen, viele unterschiedliche Personen, diverse Zeitebenen und dazu ein sprunghafter Erzähler führen dazu, dass der Leser von Seite 1 bis 1.040 aufmerksam sein muss. Meyer gönnt uns keine Pause. Die Autoren, deren Zitate er in seinen Roman einarbeitet reichen von Christa Wolf über Johannes R. Becher bis hin zu Norman Mailer. Aber nicht nur das: In den Roman sind viele Anspielungen auf Filme eingearbeitet – und das nicht nur auf die Karl May-Verfilmungen der 1960er-Jahre. Als der Cowboy ganz am Anfang des Romans mit nur einer großen Kiste im kroatischen Velebit Gebirge ankommt, hat sie Szenerie schon etwas von Sergio Corbuccis Django. Die Hauptrolle wurde da gespielt von Franco Nero. Meyer nennt einen der Dortmunder Neonazis Franco Nemo – klingt fast identisch. Die Projektoren also ein Italo-Western auf dem Papier? Zumindest lässt sich der Leipziger Schriftsteller ähnlich viel Zeit beim Erzählen, wie Leone, Corbucci und Co.
In seinem Spiegel-Interview nach der Preisverleihung zum Deutschen Buchpreis forderte Meyer einen schonungsloseren Umgang mit der Literatur – ähnlich wie ihn die Gruppe 47 in ihren Statuten festlegte. Es muss nicht alles gut gefunden werden. Selbst diesen Gedanken zugrunde gelegt, bleibt es ein überragendes Buch, das den Preis mehr als verdient hätte, denn Clemens Meyer ist ein Erzähler, der sein Handwerk versteht und nicht auf das billige Mittel der Chatwiedergabe greifen muss. Ich gebe zehn von zehn Dottores.
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