Durchgelesen und für Infos Sex geboten – Teil 200
- berndhinrichs
- 9. Nov.
- 2 Min. Lesezeit

Die Sehnsucht nach Nähe und Bedeutung
Wer kennt es nicht – das Gefühl, gebraucht zu werden, geliebt zu werden. Dieses kurze Aufleuchten, wenn jemand Interesse zeigt, Aufmerksamkeit schenkt. Und wie schnell man dann beginnt, alles andere hintanzustellen, nur um diesen Moment festzuhalten. Was du kriegen kannst von Clemens Böckmann erzählt von genau dieser Sehnsucht – und davon, wie sie sich in ein System verstrickt, das Nähe als Werkzeug benutzt. Uta, die Hauptfigur, sucht Zuneigung und Bedeutung – und findet sich in einem Netz aus Kontrolle, Schuld und Abhängigkeit wieder.
Eine junge Frau im Dienst der Staatssicherheit
Uta ist Anfang zwanzig, als sie in den 1970er-Jahren in der DDR von der Staatssicherheit angeworben wird. Unter dem Decknamen „Anna“ soll sie auf den Leipziger Messen westdeutsche Männer verführen, um an Informationen zu gelangen. Was zunächst wie eine Gelegenheit aussieht, ein selbstbestimmteres Leben zu führen – ein wenig Freiheit, ein wenig Aufregung – wird bald zu einem Netz aus Kontrolle, Schuld und Scham. Böckmann erzählt von einer Frau, die zwischen Anpassung und Aufbegehren zerrieben wird.Uta ist keine überzeugte Spitzelin, aber sie lässt sich ein, Schritt für Schritt, bis sie selbst nicht mehr weiß, wo ihre Entscheidungen enden und die der anderen beginnen. Jahrzehnte später, nach der Wende, holen sie ihre Akten ein. Alte Beziehungen, alte Lügen, alte Wunden brechen wieder auf.
Zwischen Dokumentation und Fiktion
Böckmann gelingt es, seinem Roman ein Höchstmaß an Authentizität zu verleihen. Schon nach wenigen Seiten ist spürbar, wie sorgfältig er recherchiert und wie tief er sich in die Atmosphäre jener Zeit hineingearbeitet hat. Immer wieder verschwimmen die Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion – und genau das macht den Reiz aus.Ich wusste beim Lesen nie ganz genau, was real und was erfunden ist, und gerade diese Unsicherheit verleiht dem Text eine besondere Spannung. Dass Böckmann selbst sagt, die Figur der Uta gehe auf eine reale Person zurück, verstärkt den Eindruck, hier einer Geschichte zu begegnen, die aus dem echten Leben heraus erzählt wurde – roh, widersprüchlich und dadurch umso glaubwürdiger.
Eine Heldin ohne Heldenpose
Was mich besonders beeindruckt hat, ist die moralische Vielschichtigkeit der Hauptfigur. Uta ist keine Heldin, aber auch keine klassische Täterin. Sie handelt, sie lässt geschehen, sie sucht Nähe und benutzt sie zugleich. Manchmal versteht man ihre Entscheidungen, manchmal erschreckt man darüber, wie weit sie geht.Böckmann zwingt einen, im Unklaren zu bleiben – und genau darin liegt die Stärke des Romans. Er verzichtet auf eindeutige Urteile und zeigt, wie brüchig Begriffe wie Schuld, Verantwortung oder Freiheit in einem System sind, das alles durchdringt. Uta bleibt eine widersprüchliche Figur – und gerade deshalb wirkt sie glaubwürdig.
Nähe als Risiko
Am Ende bleibt ein stiller Nachhall. Was du kriegen kannst ist kein lauter Roman, keiner, der schnelle Urteile zulässt. Er erzählt von Verletzlichkeit und Anpassung, von dem Wunsch, gesehen zu werden – und davon, was es kostet, wenn andere diesen Wunsch erkennen und ausnutzen.Clemens Böckmann hat ein Buch geschrieben, das unter die Haut geht, gerade weil es nicht belehrt, sondern beobachtet. Es erinnert daran, dass Nähe immer auch ein Risiko ist – und dass die Wahrheit selten eindeutig ist. 10 von 10 Geschenken.



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