„Was soll das denn?“ dachte ich schon nach wenigen Seiten. Mit dem 1994 erschienene Roman „Die Auflehnung“ bricht Siegfried Lenz mit allem, was er vorher gemacht hat. Wo sind die Parallelen zum Hier und Jetzt? Wo seine Stellungnahme zur Situation der Gesellschaft – gerade vier Jahre nach dem Mauerfall so wichtig wie nie. Von all dem keine Spur. Stattdessen liefert er uns eine Idylle. Wir erleben Willy Wittmann, den hanseatischen Teekoster, der seinen Geschmackssinn verliert. Deshalb besucht er seinen Bruder Frank, der eine Forellensucht in Schleswig-Holstein betreibt. Aber auch Franks wirtschaftliche Grundlage ist gefährdet: Kormorane drohen seine Fischbestände zu dezimieren. Hinzu kommt noch der ärger mit seinem ehemaligen Angestellten Bernie, in den sich seine Tochter Ute verliebt hat. Und sein Sohn Kai will auch nicht ewig seinem Vater mit den Forellen helfen. Klingt nach Schmonzette? Mitnichten! Lenz bleibt seiner Sprache treu. Feuilletonisten mögen sie altbacken halten. Ich finde seine Schilderungen nur wunderschön. Und wenn ihm in der Literaturkritik seinerzeit diesseitige Abgewandheit vorgeworfen wurde, dann sage ich, dass Lenz seinen Lesern eine Nische geboten hat – eine literarischen Rückzugsort. Und deshalb funktioniert das Buch auch heute noch wundervoll. Ukrainekrieg, wirtschaftliche Sorgen – wir malen unser Leben schwarz. Lenz bietet die Möglichkeit des Insichgehens. Wie 1994, als niemand wusste was kommt. Massenmord in Äthiopien, Anschläge in Deutschland – und Lenz zeigt uns private Probleme von zwei Brüdern in einer unglaublich schönen Sprache. Vielleicht bin ich naiv, aber auch mit Flucht kann einem Literatur von Zeit zu Zeit helfen. Lenz schafft das auf hohem Niveau. Ich gebe zehn von zehn Earl Greys.
berndhinrichs
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