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berndhinrichs

Durchgelesen und im Wohnkomplex mit Nachbarn arrangiert – Teil 114




Meine Studentenzeit habe ich im Wesentlichen in einem Studentenwohnheim verbracht. Ich nannte das Haus gerne „Kaninchenstall“. 13 Etagen. In einem der sozialen Brennpunkte in Bonn – da gingen nachts auch mal Autos in Flammen auf. Das hat uns aus dem Wohnheim zu einer eingeschworenen Gemeinschaft gemacht. Rund 300 Studierende aus aller Herren Länder lebten hier. Und es waren viele ausdrucksstarke Charaktere dabei: Der Nerd, der Physik studiert, der Ethnologe, der Bewusstsein erweiternde Substanzen probiert, oder der Mediziner, der immer auf der Suche nach der passenden Kunstgeschichtsstudentin war – kein Klischee, dass nicht erfüllt wurde. Sie alle machten den Kaninchenstall zu dem, was er war. Irgendwann werde ich einmal einen Roman über das Haus und seine Bewohner schreiben.


Deshalb war ich entzückt, als ich im neuen Katalog der Büchergilde Gutenberg einen Roman mit dem Titel Kaninchenstall fand. Autorin ist die erst 31jährige Tess Gunty, die mit ihrem Werk der Überraschungserfolg 2022 wurde. Sie ist die jüngste Preisträgerin des National Book Awards seit Philip Roth – immerhin die wichtigste literarische Auszeichnung in den USA. Der Kaninchenstall ist ihr erster Roman. Auf Deutsch ist der Roman im freien Buchhandel bei Kiepenheuer & Witsch erschienen. Gunty erzählt allerdings nicht die Geschichte eines Studentenwohnheims und seiner Bewohner, sondern im Mittelpunkt ihres Romans steht ein Gebäudekomplex in einer fiktiven Stadt im Mittleren Westen der USA. Es ist einer der Orte, an dem sich junge Menschen schwören „Eines Tages bin ich hier weg!“ und auf ihre Chance dazu warten. Wir lernen die 18jährige Blandine – eigentlich Tiffany – kennen, die eine Obsession für Hildegard von Bingen hat, vor einer Affäre mit ihrem Lehrer flieht und mit drei gleichaltrigen Jungs zusammenzieht. Sie alle sind vom Glück nicht begünstigt worden – haben teil traumatische Erlebnisse in der Kindheit gehabt. Außerdem wohnt im Kaninchenstall eine junge Mutter, die panische Angst vor den Augen ihres gerade geboren Kindes hat, oder Joan, die online Kondolenzbücher pflegt. Eine zufällig zusammengewürfelte Gemeinschaft und jeder hat seine Geschichte.


Das Universum von Gunty ist mindestens genauso mit schrägen Typen angefüllt, wie mein Wohnheim. Ihr Personentableau erinnert an die guten Bücher von Matt Ruff – alles etwas schräg und auf dem zweiten Blick bleibt einem das Lachen im Hals stecken. Denn was Gunty mit ihrem Text abliefert, ist nichts anderes als das Sezieren der modernen us-amerikanischen Gesellschaft. Sie spart nicht mit Anspielungen und lässt mit ihren Sätzen den glanzvollen Schein des amerikanischen Traums an der Realität zerschellen. Die Protagonisten hangeln sich durchs Leben. Teils weil ihnen angesichts ihrer finanziellen Möglichkeiten nichts anderes übrigbleibt, teils aber auch, weil sie in einem sich auflösenden Land orientierungslos wirken.


Besonders gelungen an dem Roman sind die vielen Stilmittel, mit denen die Autorin arbeitet – ein wilder Mix. Von Zeitungs- und Buchausschnitten, Nachrufen, Zitaten von Hildegard von Bingen bis hin zu Einträgen auf Social Media-Plattformen. Und auch die Erzählperspektive wird öfters mal gewechselt: Vom Allwissenden- zum Ich-Erzähler. Gunty gibt uns drei Tage unter ihren schrägen Gestalten und alles läuft von Beginn an auf den einen Höhepunkt zu: der Tag, an dem Blandine ihren Körper verlässt. Denn das ist ihr großes Ziel. Gunty zeichnet eine Protagonistin, die als Kind mit einem Trauma beladen wurde, deren Lehrer sie ausnutzt und die in ihrer Wohngemeinschaft von drei schrägen Typen vergöttert wird.


Nachtrag: Mein Studentenwohnheim wurde vor ein paar Jahren abgerissen: Asbestverseuchung. Solange mein Roman auf sich warten lässt, so lange werde ich immer wieder gerne zu Guntys Kaninchenstall zurückkehren. Ich gebe acht von zehn Mystikerinnen.

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