Ich gehöre zu den Menschen, die sich schnell fürchten. Nicht im Alltag, aber wenn ich mir eine bestimmte Sorte Filme ansehe – phantastisch-gruselige Filme – bin ich sehr schreckhaft. Damit sind keine Splatterfilme gemeint. Eher Werke wie Der Exorzist oder Poltergeist. Filme, die trotz ihres Alters bei mir sofort zu Gänsehaut führen. Es liegt vermutlich an ein paar Szenen, dass das so ist. Bei Daniels Kehlmanns kurzer Erzählung Du hättest gehen sollen, erschienen im Rowohlt Verlag, ging es mir ähnlich.
Nur 92 Seiten hat die Erzählung von Kehlmann. Dass es sich bei dem gebürtigen Münchener um einen großartigen Erzähler handelt, wusste ich schon lang. Lichtspiele ist eines der Werke, die ich mit großer Begeisterung verschlungen habe. In seiner 2016 erschienenen Erzählung reichte ein Satz aus, um mich im Bett erstarren zu lassen. Die ganze Wohnung war still, ich lag im Bett, ums Haus tobte ein Herbststurm und Kehlmann beschreibt auf S. 44 eine Szene, die alles umwirft. Aus dem bürgerlichen Leben einer Schauspielerin und eines Drehbuchautors, die mit ihrer Tochter im Kindergartenalter ein paar ruhige Tage in den Bergen verbringen wollen, wird in der Szene ein Alptraum: Der Protagonist schaut auf einen kleinen Monitor neben seinem Bett, auf dem er seine schlafende Tochter nachts beobachten kann. Diese hat sich in der Dunkelheit ihres Zimmers im Bett sitzend aufrichtet und starrt mit einem ihm fremden Blick geradewegs in die Kamera. Ein klassisches filmisches Stilmittel, mit dem Kehlmann hier arbeitet, und das erfolgreich von der Leinwand aufs Papier transkribiert. In seinem Text wimmelt es von solchen Szenen: Stimmen oder Geräusche und niemand weiß, woher sie kommen, Menschen, deren Anwesenheit man spürt, ohne sie zu sehen – das alles triggert mich.
Das großartige an der Geschichte ist, wie sich ganz langsam das Mysteriöse und Unheimliche in einen ansonsten banalen Alltag reinschiebt. Es sind zuerst nur kleine Anzeichen, die sich häufen, ein Verdacht entsteht und lässt am Ende ein Weltbild einstürzen. Vermutlich löst das bei mir den Gänsehauteffekt aus. Das Alltägliche, das langsam aus den Fugen gerät.
Kehlmann treibt es auf die Spitze. Sein Protagonist arbeitet während der Ferien in den Bergen am zweiten Teil seiner erfolgreichen Fernsehkomödie. Diese Arbeit wird für ihn und für den Leser zum Rettungsanker. Hier ist die Realität, hier können wir uns festhalten. Aber Kehlmann gönnt uns diese Rettung nicht. Denn es kommt immer wieder zu Problemen. Seine Tochter berichtet von ihrem Leben aus dem Kindergarten. Die Eltern empfinden dies als Störung für ihr Privatleben, denn sie haben miteinander ausreichend Problem, die gelöst gehören. Seine Tochter, seine Frau, dazu die zunehmenden unheimlichen Vorfälle. Und egal wie oft sich sein Drehbuchautor in diesen Situationen auf seine Arbeit besinnt: Kehlmann lässt das Phantastische, das Unheimliche immer wuchtiger in sein Leben krachen.
Du hättest gehen sollen zeigte mir einen Kehlmann, wie ich ihn noch nicht kannte. Eine phantastische Erzählung, novellenartig, die ich jedem in den dunklen Nächten mit Herbststürmen ans Herz legen möchte. Ich gebe zehn von zehn Gletscher.
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