Noch eben waren wir mit Lenz im Idyll versunken und schon lässt er uns knallhart in der Realität aufschlagen. In seinem 2003 erschienenen Roman „Fundbüro“ entführt uns der Schriftsteller in die deutsche Gesellschaft nach der Wiedervereinigung. Weltweit beachtete Vorfälle wie in Hoyerswerda haben ihn zum Schreiben des Romans veranlasst. Lenz schildert uns eine harte, unsoziale, moderne Gesellschaft. Dazu bedient er sich der Figur des Henry Neff, der völlig uneitel und ohne jeden Ehrgeiz ausgestattet, in einem Fundbüro der Bahn seinen Dienst tut. Dort lernt er Paula kennen, in die er sich verliebt, die aber verheiratet ist. Oder Albert Bußmann, seinen Kollegen mit dem Alkoholproblem. Bewegung kommt in sein Leben, als er den Mathematiker Fedor Lagutin, der aus der ehemaligen Sowjetunion stammt. Neff begleitet diese Personen passiv. Er beobachtet und kommentiert und selbst in die Geschichte einzugreifen, die vor sich hinplätschert. Das ändert sich erst, als eine Rockergang in seinem Wohnumfeld die Menschen terrorisiert – vor allem Ausländer. Das Paulas Bruder Mitglieder der Gang ist, erschwert seine Lebensumstände. Vor allem sieht er sich damit konfrontiert, dass er seinen philosophischen Leitsatz – „Probleme können mithilfe von Gesprächen gelöst werden“ – über Bord werfen muss. „Fundbüro“ ist ganz klar ein Alterswerk und Lenz beschreibt die Welt, wie er sie sieht: er der alte Mann. Sprachlich ist der Roman wieder ein Genuss, aber inhaltlich lässt sich so einiges bemängeln. Im ersten Moment musste ich lachen, als Lenz eine Rockergang auftreten ließ, die ihre Opfer mit ihren Maschinen einkreisen. Da hätte nur Bud Spencer gefehlt, der ihnen auf den Kopf haut. Das war schon sehr 70er. Warum er keine Skinheads oder einfach „den netten Nachbarn von nebenan“ genommen hat, wird sein Geheimnis bleiben. Vielleicht war es ihm zu deprimierend und er wollte einen Hoffnungsschimmer aufzeigen, wie er es dann ja auch am Ende des Romans tat. „Fundbüro“ ist in seiner Grundstimmung optimistisch. Vielleicht hätte ihm ein anderes Ende besser getan – aber Lenz war altersmilde. Ich gebe ihm sechs von zehn Spazierstöcke – hauptsächlich für die unvergleichlich schöne Erzählweise.
Nachtrag: Es ist für mich der letzte Siegfried Lenz aus der wundervollen Hamburger Ausgabe – bis zum Sommer 2023. Ich bin jetzt auf dem aktuellen Veröffentlichungsstand der Werkausgabe. Der nächste Band mit drei großen Erzählungen kommt im Sommer. Ich freue mich schon sehr darauf! Jetzt erstmal wieder ab an Bord....
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