
Während meiner Buchhändlerlehre erschien Betty Mahmoodys unsägliches Buch Nicht ohne meine Tochter im Bastei Lübbe Verlag. Das erste Mal, dass wir Bücher direkt von einer Palette verkaufen konnten – ohne sie ins Regal zu räumen. Aber das war nur der Anfang zu einer ganzen Reihe von Erfahrungsberichten im selben Verlag – „Tränendrüsenschund“ habe ich das gerne genannt. Ich hatte mir damals geschworen, niemals Erfahrungsberichte zu Krankheiten oder so zu lesen – bis jetzt. Bis ich auf Matt Haig gestoßen bin: Ziemlich gute Gründe, um am Leben zu bleiben. Was mich daran besonders fasziniert? Es geht um Depression.
Wichtig zu wissen ist dabei, dass die Fälle von psychischen Erkrankungen, allen voran Depressionen, in den letzten Jahren stark zugenommen haben. Oft fehlt es an der dringend notwendigen Akzeptanz und an Therapieplätzen. Auch Sprüche wie „Nun stell dich mal nicht so an“ oder „Mach Dich doch nicht so wichtig“ sind leider auch noch nicht verschwunden im Umgang mit Erkrankten. Welche Auswirkungen Depressionen zusammen mit Angststörungen auf das Leben haben kann, zeigt das Buch von Haig erschienen bei dtv.
Haig ist britischer Autor, Jahrgang 1975 und schreibt Geschichten für Leser aller Altersklassen. In dem Buch beschreibt er seine ganz persönliche Geschichte, wie er als junger Mann auf Ibiza mit seiner Freundin plötzlich von Angststörungen aufgerieben wurde. Es folgte ein totaler Zusammenbruch. Haig ist zu nicht mehr fähig: er kann keinen Einkauf tätigen, er kann keine Freude empfinden, er empfindet nur diese schwarze Leere. Halt geben ihm seine Freundin Andrea und seine Eltern, die mit einer bewundernswerten Ruhe mit seiner Erkrankung umgehen. Haig lässt uns teilhaben an seinem Kampf aus dem Loch und nimmt uns mit auf eine Reise.
Haigs Buch ist mehr als ein Erlebnisbericht. Der Autor geht auch immer wieder Fragen von allgemeiner Relevanz nach: Woher kommen Depressionen? Was sind die ersten Anzeichen? Was kann der Betroffene für sich tun? Was kann sein Umfeld tun? Auf diese Weise entsteht ein Sachbuch über die Erkrankung, in dem Betroffene sich wiederfinden können, deren Angehörige finden Rat und jeder kann eine Menge über sich erfahren.
Dazu trägt auch die besondere Darstellung von Haig bei. Er unterbricht seinen Text immer wieder mit übersichtlichen Aufzählungen, die mal Mut machen, wie beispielsweise „Dinge, die Du während deiner ersten Panikattacke denkst“ oder „Dinge, die Du während deiner tausendsten Panikattacke denkst“. Kurz und auf den Punkt gebracht. Unpathetisch und im besten Sinne des Wortes emotionslos.
Damit hebt sich das Buch von Haig angenehm von vielen – ich benutze mal das böse Wort – Hochglanz-Berichten zu diesem Thema ab, die in der Regel von Prominenten geschrieben wurden. Haig fehlt jede Art von Selbstmitleid oder Sendungsbewusstsein. Er hat lediglich seinen Fall aufgeschrieben und damit so unendlich viel erreicht.
Ich gebe 10 von 10 Clemens.
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