Gleich vorweg: Pamuk springt mit seinem neuen Roman nicht auf den Corona-Express auf. Er begann mit dem Roman bereits 2016 und beendete ihn 2020. Effekthascherei darf man dem türkischen Literaturnobelpreisträger also nicht vorwerfen. Pamuk berichtet von der fiktiven Insel Minger, auf der 1901 die Pest ausbricht. Minger ist zur Hälfte von Christen und zur anderen Hälfte von Moslems bewohnt. Das Eiland gehört zum Osmanischen Reich. Pamuk schildert die Ereignisse in Form eines persönlichen Berichts, der in der Gegenwart abgegeben wird. Er unterstreicht so den Eindruck, dass es Minger tatsächlich geben würde. Mit viel Akribie, Feingefühl und Fabulierkunst gibt uns Pamuk einen Einblick was passiert, wenn Gesellschaften am Abgrund stehen. Welche Werte haben bestand? Worauf zieht man sich zurück? Gleichzeitig liefert uns der Schriftsteller einen fantastischen Einblick in die gesellschaftlichen Zusammenhänge des zu ende gehenden Osmanischen Reiches. 1901 war der „kranke Mann am Bosporus“ bereits so geschwächt, das politische Beobachter dem Zerfall zusehen konnten. Pamuk ist ein wundervoller Erzähler. Er nimmt den Leser an die Hand, führt ihn durch sein Szenario, lässt ihn teilhaben am Prunk der Herrscher und am Grauen, das die Pest auslöst. 700 Seiten hat er mich nicht losgelassen. Vielleicht ist „Die Nächte der Pest“ nicht das Buch, das uns von Corona ablenkt (wozu Pamuk ja auch keine Veranlassung sah, da Corona beim Schreiben noch komplett unbekannt war) aber es ist ein fesselnder Roman, der intelligent gemacht ist und viel Deutungsspielraum lässt. Ich gebe zehn von zehn Ratten.
berndhinrichs
Bin nach rund 100 Seiten hängen geblieben. Seit dem liegen die Nächte der Pest im „ich-will-gelesen-werden-Korb“. Ich werde es nochmal wagen.