„Nie hätte ich NOSTROMO schreiben können oder den herrlichen LORD JIM; und wenn er hinwiederum den ZAUBERBERG oder den FAUSTUS
nicht hätte schreiben können, so fällt diese Gegenrechnung gar sehr zu seinen Gunten aus“. So ehrfurchtsvoll äußerte sich Thomas Mann über Joseph Conrad. Nachdem ich seinen Roman „Lord Jim“ gelesen habe, weiß ich auch, was der deutsche Literaturnobelpreisträger u.a. am polnisch stämmigen Kollegen schätzte: seine Geschwätzigkeit. Aber der Reihe nach. Worum geht es im „Lord Jim“? Um einen vielbefahrenen Seemann, der sich in einer entscheidenden Situation moralisch fehl verhält. Auf einer Fahrt von Asien zu den moslemischen Pilgerstätten mit Gläubigen, verlässt er mit der Crew das scheinbar sinkende Schiff und überlässt sie ihrem Schicksal. Allein das Schiff sinkt nicht und Jim stellt sich dem Urteil des Seegerichts – als einziges Mannschaftsmitglied. Diese Schande beeinflusst sein komplettes Leben. Auch als er sich als Handelsvertreter in Patusan – einem von Conrad ersonnenen Land – niederlässt und hier scheinbar sein Glück findet. Den Roman zeichnet sich u.a. durch seine Erzählperspektiven aus. Er startet mit dem Allwissenden-Erzähler, bis Jim im Gerichtssaal auf Kapitän Marlow trifft, der ab da die Erzählperspektive einnimmt. Dafür lässt Conrad Marlow in einer Lobby Platz nehmen, mit Zigarette und Drink. Conrad wechselt fortlaufend die Zeit in seinem Roman. Als Leser muss ich hochkonzentriert sein, um die Wechsel mitzubekommen. Der Lohn dafür ist, dass wir neben einer famosen Abenteuererzählung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielt, eine herrliche Charakterstudie zum Kolonialismus erhalten. Conrad erweist sich einmal mehr als Literat, der auf verschiedenen Ebenen erzählt. Dabei aber auch ab und zu übers Ziel hinausschießt. Seine expressionistischen Satzkonstruktionen wirken mitunter überfordernd und seine mannsche Geschwätzigkeit hemmt den Lesefluss. Aber ich kann nur raten, sich nicht abschrecken zu lassen und die philosophischen Betrachtungen stoisch zu ertragen, wie eine alte Fregatte den scharfen Nordwest und schwere See im Kanal. Noch ein Wort zur Ausgabe: Der Roman ist neu übersetzt und letztes Jahr in der Hanser Klassiker-Reihe erschienen. Eine bibliophile Ausgabe, die dem Stoff gerecht wird. Gerne mehr davon. Ich gebe – wegen der erwähnten Längen – acht von zehn „einer von uns“
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