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berndhinrichs

Durchgelesen und jüdisches Leben erlebt – Teil 117



Die Lebenssituation der eigenen Großeltern zu erforschen ist zwar mitunter ein schwieriges Feld, aber sehr lohnend. Meine Magisterarbeit schrieb ich über die Arbeits- und Lebensbedingungen an der Kriegsmarinewerft in Wilhelmshaven zwischen 1933 und 45 und habe dabei eine Menge über meine Schiffsbauer-Vorfahren gelernt. Wie kamen sie mit dem Nationalsozialismus zurecht? Wie sah ihr Alltag aus? Wie haben sie es ausgehalten? Fragen, die ich mittlerweile zumindest teilweise beantworten kann. Auf eine ähnliche Reise nimmt uns Anne Berest in ihrem Roman Die Postkarte mit.


Anne Berest ist Theaterregisseurin und erzählt in dem Roman ihre ganz persönliche Shoah-Geschichte. Alles beginnt damit, dass ihre Mutter Anfang des neuen Jahrtausends eine Postkarte bekommt, die nichts enthält als die Namen von vier Familienangehörigen, die alle in Ausschwitz ermordet wurden. So erfährt Anne die tragische Geschichte der Familie Rabinowicz, ihrer Familie. Ein paar Jahre später erlebt die Tochter von Anne in der Schule offenen Antisemitismus. Eine Bemerkung unter Kinder mit weitreichenden Auswirkungen. Denn Anne erinnert sich an die Postkarte und beginnt nach dem Urheber zu suchen.


Ich weiß nicht, ob man das, was Anne Berest abliefert, noch einen Roman nennen kann. Sie schildert ihre Suche, springt durch die Erzählungen die sie hört immer wieder in der Zeit hin und her. Sie lässt uns teilhaben an der Suche nach Zeitzeugen. Wir stehen neben ihr, wenn sie mit Menschen spricht, die ihre Großeltern noch persönlich kannten. Diese Unmittelbarkeit der schrecklichen Ereignisse machen das Buch aus. Zusammen mit dem Blick auf den neuen Antisemitismus zeichnet die französische Autorin ein erschreckendes Bild.


Ihre nüchterne Art – ein Großteil des Romans besteht aus wörtlicher Rede – lassen die Ereignisse um so barbarischer erscheinen. Berest analysiert sehr genau, wie die Lebenssituation der Juden in Europa durch den Nationalsozialismus immer schlimmer wurde und wie unterschiedlich die Menschen reagierten. Sie wanderten aus, flohen ins benachbarte Ausland, solange es noch ging, oder redeten sich die Dinge schön – bis es zu spät war.


Die Ereignisse, von denen sie berichtet, zeichnen ein Bild im besetzten Europa, das in seiner Bestialität kaum zu steigern ist. In allen besetzten Gebieten wurde jüdisches Leben schrittweise verdrängt und vernichtet. Und selbst an den Orten, wo es keine Beobachter geben durfte, in den Vernichtungslagern, konnte Berest anhand festgehaltener Augenzeugenberichte, ihrer Familie weiter folgen. Es gibt Menschen, die schon vor Jahren ihre Geschichte veröffentlichten, und die auch über Angehörige der Familie Rabinowicz berichteten – eine ganz normale Familie.


Die Postkarte von Anne Berest ist im Berlin Verlag erschienen. Ich habe die Ausgabe der Büchergilde Gutenberg gelesen. Vielleicht ist das Thema einer jüdischen Familiengeschichte nicht wirklich geeignet, um über schöne und weniger schöne Bücher zu schreiben. Aber die Ausgabe aus dem Berlin Verlag fand ich dermaßen miserabel, vom Umschlag bis zum Papier, dass ich den Roman nicht gekauft habe, obwohl ich mich gerne in Shoah-Romane vertiefe. Es brauchte die Ausgabe der Büchergilde mit geprägtem festem Einband, Schutzumschlag, farbiges Vorsatzpapier und Lesebändchen, bevor ich mich für den Kauf entschloss. Bekloppt! Denn der Roman von Anne Berest ist ein Buch für die Ewigkeit – für mich bisher das Buch des Jahres 2024. Ich gebe zehn von zehn Menschen. 

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