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Durchgelesen und mich zum dritten Mal verliebt – Teil 157

berndhinrichs



In meinem literarischen Leben habe ich mich genau drei Mal verliebt. Das erste Mal mit rund 17 Jahren: Hermine aus dem Steppenwolf hatte es mir angetan, wie noch keine andere weibliche Romanfigur. Für das zweite Mal musste ich immerhin fünf Jahre warten. Ada Brons verdrehte mir bei der Entdeckung des Himmels völlig den Kopf und für ein paar Wochen wollte ich Onno oder Max sein. Und jetzt ist es mir zum dritten Mal passiert, dass ich mich in eine Frau aus einem Roman verliebt habe: Sie hat keinen Namen und ist die Ich-Erzählerin in Miranda Julys Roman Auf allen Vieren. Und ich gebe zu, der Titel war zunächst kaufentscheidend – gutes Verlagsmarketing.


July schildert das Leben einer Schriftstellerin mit Mitte 40. Sie lebt mit ihrem Mann, einem Musikproduzenten, und ihrem non-binären Kind in L.A. Im Roman hat sie keinen Namen. Um ihr eingefahrenes Leben zu ändern, fasst sie den Entschluss, einmal von L.A. nach New York mit dem Auto zu fahren. Also bricht sie alleine zu einem Roadtrip auf, der allerdings schon im Vorort von L.A. an der ersten Tankstelle endet. Da putzt nämlich ein junger Mann, Davey, ihre Windschutzscheibe und sie fühlt sich von ihm angezogen. Sie mietet sich in einem Motel ein, lässt sich von Daveys Frau ihr Zimmer geschmackvoll einrichten und bleibt zwei Wochen. Zwei Wochen in denen sich ihre Gefühle zur sexuellen Besessenheit steigern. Zurück in ihrer Familie geht ihr Davey nicht aus dem Kopf. Zudem droht am Horizont das Schreckgespenst „Wechseljahre“ und sie fragt sich, wie lange sie noch Spaß am Sex hat. An diesem Punkt in ihrem Leben beginnt für sie eine Reise zu den unterschiedlichen Formen der weiblichen Lust - ohne gesellschaftliche Konventionen zu beachten.


Julys Roman hat mich umgehauen. Klar, es geht um Sex. Auf fast jeder Seite. Aber es ist eine weibliche Lust, in die der Leser hier eintaucht. Es sind nicht die banalen, leicht vorhersehbaren pornografischen Versatzstücke, wie sie in manchem männlichen Gehirn ersonnen werden. July lässt allen Spielarten weiblicher Lust ihren Platz und das macht das Buch sowohl für Frauen als auch für Männer interessant. Frauen können aus ihm hoffentlich das Selbstverständnis ziehen, dass sie für ein erfülltes (Sex)Leben brauchen. Männer können tatsächlich noch viel lernen über die Ängste, Erwartungen und Bedürfnisse von Frauen – vor, nach und während es Sexes.


Es ist ein Vorzug des Buches, dass July sich dem Themenkomplex mit viel Humor nähert. Ich habe lange nicht mehr so viel gelacht beim Lesen. Ihre Protagonisten bewegt sich in einer woken Blase und ich musste oft an den feinsinnigen Humor von Woody Allen denken. Ich habe sie nach gut 400 Seiten wirklich nur schweren Herzens ziehen lassen. Sie ist mir ans Herz gewachsen und ich werde noch oft an sie denken. Glücklicherweise weiß ich ja, wo ich sie finde und wie ich zu ihr zurück gehen kann.


Ich gebe zehn von zehn Mietwagen.

 
 
 

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