top of page
berndhinrichs

Durchgelesen und Mississippi kennengelernt – Teil 102


Wenige Gegenden in den USA sind mit so vielen Klischees behaftet, wie die Südstaaten. Schwüle Sümpfe und trockene Wüsten, hinterwäldlerische Rednecks, brennende Kreuze und korrupte Cops – alles Zutaten, die guter Hintergrund für spannende Geschichten sein können. Das Vergnügen


potenziert sich, wenn aus diesen Klischees eine Parodie zusammengesetzt wird, geschrieben am besten noch von einem Schwarzen. Vorhang auf: Percival Everetts Roman „Bäume“ ist das passende Lesefutter.



Everett erzählt eine gleichermaßen skurrile wie spannende Geschichte. In der Kleinstadt Money in Mississippi geschehen eine Reihe von brutalen Morden. Weiße Bürger der Stadt, zugegeben sie waren nicht gerade die Lichtgestalten der Evolution, werden auf bestialische Weise ermordet. An den jeweiligen Tatorten wurde auch immer die Leiche eines Schwarzen gefunden, der erstaunliche Ähnlichkeit mit Emmett Tills hat, einem durch Lynchjustiz ermordeten Jugendlichen. Zwar liegt dieser Fall schon Jahrzehnte zurück, aber die beiden ermittelnden Detektive, Ed Morgan und Jim Davis, sehen hier von Anfang an einen Zusammenhang. Als schwierig erweist sich die Tatsache, das Morgan und Davis ebenfalls schwarz sind und in einer Kleinstadt in den Südstaaten, mit auf dem Land ermitteln müssen. Ku Klux Klan und Rednecks als Polizisten erschweren ihre Arbeit.


Everett liefert einen Roman, wie ich ihn in dieser Form noch nie gelesen habe. Es ist die absurde Mischung zwischen einer herrlich komischen Parodie und einem knallharten Thriller, der in seinen Detailschilderungen nichts für schwache Nerven ist. Während ich mir noch die Tränen vor Lachen aus den Augen wischte, angesichts der grotesken Schilderungen der weißen Einwohner von Money, blieb mir nach dem Umblättern das Lachen im wahrsten Sinne im Hals stecken, wenn der nächste Tatort beschrieben wurde. Natürlich ist die Darstellung der weißen Landbevölkerung nicht politisch korrekt und wurde dafür auch kritisiert. Everett hat dazu eine klare Meinung, die er in einem Interview mit seinem deutschen Verlag offenlegte: „Der Roman lebt ebenso sehr davon, Stereotype umzudrehen, wie davon, eine Wahrheit über Lynchmorde aufzudecken. Ich habe kein Problem damit, Leute mit meinen typisierten weißen Figuren verärgert zu haben.“


Everett hält in dem gesamten Roman ein sehr hohes Erzähltempo. Die kurzen Kapitel kommen im Stakkato-Takt angeflogen und wir begleiten die beiden Ermittler im Dauerlauftempo – ein Pageturner. Dabei bleibt natürlich auch einiges auf der Strecke. Wer beispielsweise längere Schilderungen von Lebenssituationen oder Charakteren erwartet, kann die rund 360 Seiten des Romans von vorne nach hinten und wieder zurück lesen, er wird keine finde. Everetts Roman lebt von der wörtlichen Rede. Er opfert die Tiefe einem rasanten Erzähltempo und den Effekten. Passt aber im Gesamtbild sehr gut.


Gegen Ende des Romans hatte ich allerdings ein kleines bisschen das Gefühlt, dass Everett von seinem eigenen Tempo überholt wurde. Ohne zu Spoilern merke ich nur an, dass die Auflösung des Falls (okay, sie ist im Grunde genommen völlig überflüssig) und vor allem die Verwicklungen gegen Ende selbst für meinen Geschmack etwas zu abgedreht sind.



In zwei Situation macht der amerikanische Autor allerdings eine Vollbremsung in seinem Erzählfluss und ich wurde herausgerissen aus Parodie und Thriller. Da ist zum einen der Fall Emmett Tills. Die Romanfigur geht auf den gleichnamigen 14jährigen Teenager zurück, der 1955 in Money, Mississippi, ermordet wurde, weil er angeblich eine weiße Frau berührt hat. Emmetts Mutter sorgte dafür, dass bei der Beerdigung ihres Sohnes der Sarg offenblieb, damit jeder sehen könne, was man ihrem Kind angetan habe. Die zweite Vollbremsung erlebt der Leser im letzten Drittel des Buches, wenn über elf Seiten Namen von Schwarzen genannt werden, die in den USA der Lynchjustiz zum Opfer fielen. Everett selbst betont, dass viele der Namen real sind. Jeder Name eine Zeile. Besser und eindrucksvoller kann ihr Mahnen nicht vermittelt werden.


Ich habe die schöne Ausgabe der Büchergilde Gutenberg gelesen. Der Roman ist aber auch im freiverkäuflichen Buchhandel bei Hanser erschienen. Eine Empfehlung für kurzweilige Leseabende. Ich gebe neun von zehn brennenden Kreuzen.

37 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Comments


bottom of page