Vor ein paar Tagen vermeldete die Neue Züricher Zeitung einen Sensationsfund: Ein verschollenes Manuskript von Thomas Mann, in dem er 1943 einen revolutionären Aufstand gegen Hitler erhoffte, sei wieder aufgetaucht. Als Thomas Mann im Jahre 1938 endgültig in die USA emigrierte, nannte ihn die amerikanische Presse „Hitlers intimsten Feind“. Angesichts seiner Autorität in der öffentlichen Meinung wurde Thomas Mann oft um politische Stellungnahmen gebeten. Im März 1943 erhielt er den offiziellen Auftrag, seine Gedanken zur Zukunft Deutschlands niederzuschreiben. In seinem Tagebuch notierte er am 4. März 1943: „Versuchte etwas über Deutschlands Zukunft für das Office of War Information zu formulieren.“ Das Office of War Information, eine Regierungsbehörde, die von Juni 1942 bis September 1945 bestand, hatte die Aufgabe, Kriegsinformationen und -propaganda zu verbreiten, um die öffentliche Meinung für den Sieg über Nazideutschland zu mobilisieren. Thomas Mann, als kritischer Denker und unbeugsamer Gegner des Nazi-Regimes, wurde zu einem wichtigen Sprachrohr in diesen Bemühungen. Sowieso waren alle Manns in vorderster Front dabei, wenn es um den Kampf von außen gegen Hitlers Regime ging. Zeugnis davon legt nun einmal mehr Unda Hörner mit ihrem Buch Solange es eine Heimat gibt – Erika Mann ab.
Hörner beginnt ihr faszinierendes Buch im Mai 1949. Katja und Thomas sind mit ihrer Tochter auf dem Weg nach Stockholm. Reden, Ehrungen – das übliche für den 75jährigen Star-Autoren. Über ihnen lastet aber die Frage, wie mit dem 200. Geburtstag Goethes umgehen. Denn sowohl aus Weimar als auch aus Frankfurt am Main liegen den Manns bedeutende Einladungen vor. Es geht um Reden und Ehrungen – und das Reklamieren des großen Schriftstellers für die jeweilige Weltsicht. Ost gegen West trat immer mehr zu Tage. Die Manns wollten weder das eine noch das andere. Denn Teil in Stalins Propaganda-Maschinerie zu sein, war ihnen mindestens genauso zuwider, wie in der gerade gegründeten Bundesrepublik mit ihren Alt-Nazis aufzutreten. Während dieser Diskussionen brach die Katastrophe über die Manns herein: der Suizid von Klaus Mann in Cannes. Vor allem Erika reißt es den Boden unter den Füßen weg. Sie und Klaus waren eins. In Rückblicken lässt Erika nun ihr gemeinsames Leben noch einmal an sich vorbeiziehen: die wilden 20er-Jahre, die Reisen, das ungezwungene Leben, die Eskapaden, die Flucht, das Exil und der stete Kampf mit ihren Mitteln gegen den Nationalsozialismus.
Hörner hat ein Sachbuch geschrieben, das sich perfekt zu ihren Vorgängern 1929 – Frauen im Jahr Babylon oder 1939 – Frauen im Exil einreiht. Das Buch bietet keine großartigen neuen Erkenntnisse, vermittelt aber in einem fesselnden und mitreißenden Ton viel Wissenswertes. So stolpere ich beim Lesen immer wieder über mir längst bekannte Autoren und ertappe mich dabei, wie ich mehr als einmal denke: „Ach ja, von dem könntest Du eigentlich auch mal (wieder) was lesen“. Solange es eine Heimat gibt – Erika Mann hat meine interne Leseliste um das zigfache verlängert – und das ist gut so. Denn wie einst bei Florian Illies Liebe in Zeiten des Hasses zeigt mir Hörner, auf ganz andere Art und Weise, welchen unglaublichen Schaden deutsche Kultur durch den Faschismus genommen hat. Ein Schaden von dem wir uns bis heute nicht erholt haben.
Ich habe mich bei der Lektüre gefragt, was die Familie Mann wohl in unserer Zeit für eine Rolle spielen würde? Vorneweg die Mutter Katja, dann die Kinder Klaus, Erika, Michael, Golo, Elisabeth und Monika. Über ihnen allen das Brüderpaar der Altvorderen-Generation: Heinrich und Thomas. Vermutlich wären sie eine Insta- Facebook- oder zumindest Reality-TV-Familie. Klaus als das schwarze Schaf der Familie, Erika die schnippische, Heinrich und Thomas als die Besserwisser und Patriarche. Das ist mindestens genauso schwer vorstellbar, wie für uns heutigen die Bedeutung der Manns für ihre Zeit. Mit ihrem Buch offenbart uns Hörner nicht nur, welche Bedeutung die Manns für den freien Teil der deutschen Intellektuellen hatten, sondern sie lässt uns teilhaben am privilegierten Leben der Familie. Das ist auf jeder Seite grandios. Für mich ein Pageturner. Ich gebe neun von zehn Pilotenscheine.
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