Neulich habe ich gelesen, dass Florian Illies ein neues Genre in der deutschen Literatur geschaffen habe: die Darstellung von Ereignissen oder Epochen in vielen kleinen Miniaturen. Das hat schon bei „1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ oder „Liebe in Zeiten des Hasses“ hervorragend funktioniert. Mit seinem neuen Buch – „Zauber der Stille“ – nähert er sich keiner Epoche, sondern einer Persönlichkeit an: Casper David Friedrich.
Illies begleitet den Maler der Frühromantik durch die Zeiten. Dabei geht er nicht chronologisch vor, sondern unterteilt die Schaffensperioden von Friedrich in die Bereiche Feuer, Erde, Wasser und Luft. Er stellt die wichtigsten Bilder zu den jeweiligen Rubriken vor, lässt sie Teil der Biographie des Malers werden und verfolgt ihre Wirkung durch die Jahrhunderte. Dabei schlägt er einen Bogen von der Entstehung der Werke bis hin zur Gegenwart.
Illies hat in Allem was er schreibt seinen ironischen Ton beibehalten, den ich schon in seinen vorherigen Werken so mochte. So stellt er Hitlers verfälschten Blick auf die Romantiker nicht weniger bloß, als die Entlassung des Direktors der Berliner Nationalgalerie, Eberhard Hanfstaengel, der von einem Juden einen Spitzweg zum regulären Preis kaufte, um diesem die Flucht aus Deutschland zu ermöglichen. Dumm nur, dass Hanfstaengel das entsprechende Geld im Vorfeld bei Hitler, einem glühenden Verehrer des Malers, persönlich eingeholt hat – der Führer als Finanzier eines jüdischen Emigranten. Klar, das Hanfstaengel gehen musste. Für mich ein weiterer Höhepunkt ist auch die Schilderung des Diebstahls des Friedrich Gemäldes „Nebelschwaden“ 1994 in Frankfurt. Vor allem der spektakuläre Rückkauf des Bildes – ein Gaunerstück zum Lachen.
Illies zieht auch immer wieder Parallelen und benennt Künstler, die sich auf den deutschen Maler beziehen – von Murnaus „Nosferatu“ bis hin zu Salman Rushdie. Das Buch steckt so voller Wissen, Anekdoten und Skurrilem, dass man nach dem letzten Satz eigentlich sofort wieder von vorne anfangen möchte.
Dass das Buch genau zur richtigen Zeit kommt, liegt auch daran, dass anlässlich des 250. Geburtstags von Caspar David Friedrich die Hamburger Kunsthalle vom 15. Dezember 2023 bis 1. April 2024 die Jubiläumsausstellung „Caspar David Friedrich. Kunst für eine neue Zeit“ präsentiert. Sie bietet die umfangreichste Werkschau des Malers seit vielen Jahren. Im Mittelpunkt der Ausstellung steht eine thematisch ausgerichtete Retrospektive mit über 60 Gemälden – darunter zahlreiche Schlüsselwerke – und rund 100 Zeichnungen. Ergänzend werden ausgewählte Arbeiten von Künstlerfreunden Friedrichs präsentiert, unter anderem von Carl Blechen, Carl Gustav Carus, Johan Christian Dahl, August Heinrich und Georg Friedrich Kersting. Zentrales Thema ist das neuartige Verhältnis von Mensch und Natur in Friedrichs Landschaftsdarstellungen.
Die anhaltend hohe Faszination, die seine Werke auslösen, und die besondere Anschlussfähigkeit für Themen der Jetztzeit, zeigt ein zweiter eigenständiger Teil der Ausstellung, welcher Friedrichs Rezeption in der zeitgenössischen Kunst gewidmet ist. Die Ausstellung zeigt aber auch aktuelle Arbeiten, die sich den Schattenseiten und Leerstellen der Romantik und ihrer Rezeption widmen – vor denen auch Illies in seinem Buch die Augen nicht verschloss: Kolonialismus und Nationalismus beispielsweise.
Illies oder Kehlmann – bisher ist es ein enger Zweikampf um das Buch des Jahres 2023 für mich. Denn auch der Autor von „Zauber der Stille“ bekommt die Höchstpunktzahl: Zehn von zehn Mönche am Meer.
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