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berndhinrichs

Durchgelesen und mit Jules Verne die Welt entdeckt – Teil 112




Es gibt Geschichten, die begleiten einen vermutlich bis ans Lebensende. Bei mir ist es Jules Vernes Die Kinder des Kapitäns Grant. Ich erinnere mich, dass ich früher als Kind das Hörspiel mit meinem älteren Bruder rauf und runter gehört habe. Der Kassettenrekorder stand im Türrahmen zwischen unseren Zimmern. Irgendwann leierte das Band und die Kassette ging kaputt. Viele Jahre später hatte ich noch immer Dialogfetzen des Hörspiels im Kopf, konnte sie aber nicht zuordnen und fragte mich: Wo hast du das bloß gehört. Erst Jahre später, mittlerweile hatte ich selbst Kinder, wurde das Hörspiel neu aufgelegt und da ging mir ein Licht auf. Auch als das Abenteuer in ein Comic adaptiert wurde, von dem grandiosen Alexis Nesme, hat es mich sofort gepackt. Verwunderlich ist, dass ich die Geschichte in vielen Adaptionen gehört und gelesen habe, aber niemals den Roman selbst. Das musste ich ändern.


Jules Verne hat mit Die Kinder des Kapitäns Grant eine klassische Abenteuergeschichte geschrieben. 1864 befinden sich Lord Glenarvan, seine Frau Helena und sein Vetter Major MacNabbs an Bord ihrer Yacht Duncan. Auf dem Rückweg der Jungfernfahrt fischen sie eine Flaschenpost aus dem Meer, in der ein Hilferuf steckt: Kapitän Grant hatte sich mit zwei seiner Matrosen an Land gerettet und wartet auf Rettung. Das Problem an der Botschaft: Das Meerwasser hat sie an verschiedenen Stellen zerstört. Gut, dass in der Flasche drei Schriftstücke sind – der Notruf auf Englisch, Französisch und Deutsch. Fest steht nur, dass das Unglück auf dem 37. Breitengrad in der Südhemisphäre passierte. Also machen sich Lord Glenarvan, seine Freunde, die Kinder von Grant, Mary und Robert, sowie der Kapitän der Duncan, John Mangles, zusammen mit Jacques Paganel, der unterwegs aufgelesen wird, auf die Suche nach Grant. Dabei zeigt sich, dass die Schriftstücke mannigfachen Interpretationsspielraum lassen. So durchqueren die Freunde auf der Suche nach Kapitän Grant Patagonien und Australien, fliehen vor den Kannibalen in Neuseeland und wehren sich gegen entflohene Sträflinge in Australien, die an ihr Leben wollen.



Der Roman erschien erstmals 1867/1868 in drei Bänden. Die Frage, die ich mir also gestellt habe war, ob eine Geschichte, die rund 150 Jahre alt und zudem mir auch völlig bekannt ist, fesseln kann. Das ist keine leichte Aufgabe, denn schließlich hat das Buch in der bibliophilen Ausgabe, die mir vorlag annähernd 650 eng bedruckte Seiten. Nach der Lektüre kann ich aber nur ein Urteil hierzu fällen: Die Geschichte um die Suche nach Kapitän Grant ist ein Pageturner, der bis heute nichts von seiner Faszination eingebüßt hat. Das liegt vor allem daran, dass Jules Verne in seinen Romanen ein spezielles Konzept verfolgt hat. Wenn der französische Autor beispielsweise die Abenteuer der Nautilus in 20.000 Meilen unter den Meern erzählt, will er nicht prophetisch in die Zukunft blicken, sondern seinen Lesern vermitteln, was über die Unterwasserwelt seinerzeit bekannt war. Ein anderes Beispiel: Bei Reise zum Mittelpunkt der Erde ging es um Geologie. Dieses Konzept lässt sich auf so gut wie alle Verne-Romane anwenden. Der Autor verstand seine Texte als Unterhaltung und als Wissensvermittlung – heutzutage würde man es Infotainment nennen.


Nicht anders funktioniert Die Kinder des Kapitän Grant. Versetzen wir uns einen Moment in die Leser des Jahres 1868. Die weißen Flecken auf der Erde werden weniger – das Zeitalter des Imperialismus im 19. Jahrhundert befand sich in den Startlöchern. Vieles ist entdeckt und erforscht. Dennoch locken abenteuerliche Landstriche, unbekannte Gefahren, wilde Tiere vor allem junge Menschen in die Ferne. Für eben diese Generation hat Verne seine Bücher geschrieben und es ist aus heutiger Sicht erstaunlich, mit wieviel Empathie und Weitsicht er dies tat. Natürlich – und da darf kein Zweifel bestehen – Verne ist ein Kind seiner Zeit. Der Blick des intellektuellen Europäers auf die indigenen Völker Afrikas, Australiens oder Amerikas ist mehr als kritikwürdig. Es hat etwas von einem Elternteil, dass auf eines seiner Kinder blickt – und das entspricht dem Zeitgeist. Wie auch seine Vorstellungen zur den Geschlechterrollen. Obwohl, auch das gehört zur Wahrheit, die Frauen in dem Roman sehr willensstark sind und den Männern in nichts nachstehen. Und doch: An den gleichen Textstellen, wo von „Wilden“ die Rede ist, philosophiert der französische Autor wenige Zeilen danach über die Barbarei, mit der in den Kolonien vorgegangen wird. Er nennt „fünf Millionen Inder“, die „vom Erdboden verschwanden“, spricht generell von Grausamkeiten gegen die Urbevölkerung und konstatiert: „So schwindet die Urbevölkerung, die durch schlechte Behandlung und Säufertum zusammengeschmolzen ist, allmählich vom Kontinent und macht einer menschenfeindlichen Zivilisation Platz“. Vielleicht nicht gerade der aktuellste Beitrag zur Diskussion über Kolonialschuld, aber für die Zeit ihrer Entstehung zumindest bemerkenswert.


Die Kinder des Kapitän Grant ist eine lohnende, weil fesselnde Lektüre. Es macht Lust auf den Urvater des Infotainment. Leider ist die bibliophile Ausgabe nicht mehr zu haben, aber problemlos antiquarisch zu erstehen – oder eben eine der unzähligen aktuellen Veröffentlichungen. Ich gebe 10 von 10 Maori.

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