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Durchgelesen und vom Gelegenheitskauf begeistert – Teil 184

  • berndhinrichs
  • vor 17 Minuten
  • 2 Min. Lesezeit

Martin Suters Roman Wut und Liebe ist Schuld daran, dass ich Christoph Hein Das Narrenschiff gelesen habe. Als mir mein Lesestoff tatsächlich einmal ausgegangen war und die einzige Buchhandlung in der Nähe eine Thalia war, musste ich mit dem mehr als spärlichen Angebot dort vorliebnehmen. Eigentlich sollte es der neue Suter sein, in den ich vor Ort reinlas. Die erste Seite hat mich allerdings mit ihren Banalitäten schon so gelangweilt, dass ich – um nicht irgendeinen Romance-Schund zu kaufen – auf Hein zurückgreifen musste. Ich gebe gerne zu, mit einem großen Seufzer, denn eigentlich hatte ich keine Lust auf den x-ten Roman zur DDR.


Denn Hein blickt auf die Geschichte der DDR. Er lässt uns teilhaben an den Lebensläufen von fünf Freunden in Berlin, die eng mit der Geschichte des Arbeiter- und Bauernstaates verknüpft sind. Da sind beispielsweise Yvonne und Johannes Goretzke. Sie hat durch die Nationalsozialisten ihren Mann, einem jüdischen Ingenieur, und Vater ihrer Tochter verloren. Johannes lernt Yvonne erst nach dem Krieg kennen und heiratet sie. Eine Vernunftsehe. Rita und Karsten Emser gehören zu ihren Freunden. Er ist Mitglied im Zentralkomitee, sie Stellvertreterin des Bürgermeisters – zwei die an den Schalthebeln der Macht zu sitzen scheinen. Und schließlich noch Benaja Kuckuck, der während der Nazizeit nach England emigrierte und schließlich in der DDR den Kinder- und Jugendfilm überwachte – alles im Sinn der Partei. Hein schildert die Lebenswege der fünf vom Ende des Zweiten Weltkrieges, bis zum Fall der Mauer. Es kommen Kinder zu Welt, sie werden erwachsen, Affären, Liebe und Enttäuschung. Hein stellt nichts anderes da als das Leben. Ein Leben in der DDR.

750 Seiten nimmt sich Hein Zeit für seine personalisierte Geschichte der DDR. Seinen Schwerpunkt legt er auf die ersten 20 Jahre der DDR unter Walter Ulbricht. Der 80-jährige Schriftsteller gilt als der Chronist der DDR und erfreut sich als Erzähler vor allem in Ostdeutschland großer Beliebtheit. Hein beginnt seinen Roman zwar unmittelbar nach dem Krieg, dennoch reichen die Erzählfäden weit zurück in die Vergangenheit. Sei wie bei Johannes Goretzka, als dunkles Geheimnis seiner Tätigkeiten im Zweiten Weltkrieg. Oder wie bei Karten Emser, der im sowjetischen Exil unter stalinistischer Überwachung überleben musste.


Hein gibt seinen Charakteren Tiefe und Glaubwürdigkeit. In seinem typischen nüchternen Erzählton und dominiert von wörtlicher Rede treibt er die Geschichte voran. Wie gebannt habe ich an seinen Sätzen gehangen und konnte das Buch nicht weglegen. Denn Hein erzählt nicht nur die Biografien von Menschen, er erzählt auch über die DDR. So etwa über die Bedeutung der Geheimrede von Nikita Chruschtschow, die er auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 hielt und in der er den Personenkult um Stalin und die damit verbundenen Verbrechen kritisierte. Eine Rede, die zum Wendepunkt der Freunde und der ganzen Republik wurde.


Und immer wieder Willkür, vor der niemand sicher ist. Johannes Grotzka war bei der Partei in Ungnade gefallen, Karsten Emser bewegte sich immer auf einem schmalen Grat. Kuckuck pendelt zwischen künstlerischer Freiheit und politischer Doktrin hin und her. Einzig die beiden Frauen, Rita Emser und Yvonne Goretzka – und später auch ihre Tochter Kathinka – scheinen sich in dem wirren Geflecht der DDR zurechtzufinden.


Das Narrenschiff erzählt von der DDR. Und es erzählt sehr gut. Für mich bisher das Highlight des Jahres und ich gebe zehn von zehn Schutzwälle.

 
 
 

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