Nach so viel roher Sachlichkeit musste ich erstmal wieder etwas Poesie in mein Leseleben bringen. Von den Autoren, die in meinem Regal bereits standen, sticht dabei der Name Thomas Mann ins Auge. Meine Wahl fiel auf seine kleine Novelle „Tonio Kröger“, die – ich muss es gestehen – bisher schmählich übergangen wurde von mir.
In „Tonio Kröger“ thematisiert Mann den ihn ewig marternden Gegensatz zwischen Bürgerlichkeit und Künstlertum. Was an sich schon ziemlich komisch ist, wenn wir Nachgeborenen auf sein Schaffen blicken, denn es dürfte kaum einen Schriftsteller im 20. Jahrhundert gegeben haben, der in seiner wohlsituierten Bürgerlichkeit so gut verwurzelt war, wie dies bei Thomas Mann der Fall war. Wie auch immer. Wir begegnen im ersten Kapitel Kröger noch als Schüler. Seine ganze Zuneigung gehört seinem Mitschüler Hans Hansen. Da wo Kröger nachdenklich, ausgegrenzt und unsicher ist, tritt Hansen gedankenlos, beliebt und selbstsicher auf. Der Kontrast wird auch im zweiten Kapitel fortgeführt: Dort trifft Kröger – mittlerweile älter geworden – auf die blonde Inge Holm beim Tanzen. Wie Hansen verkörpert sie das unbeschwerte Leben. Auf den folgenden Seiten verfolgen wir den Helden, wie er sich immer weiter als Künstler bildet. Für viele Leser der Höhepunkt der Novelle ist sein Streitgespräch mit der befreundete Malerin Lisaweta Iwanowna über das Thema, was einen Künstler auszeichnet. Achtung: Hier ist der Wendepunkt der Novelle! Im Anschluss – Kröger mittlerweile um die 30 Jahre alt – begibt er sich auf eine Reise, an deren Ende er Inge Holm und Hans Hansen wiederbegegnet. Er beobachtet sie heimlich. Sie sind ein Paar. Und ihrer angesichtig merkt Kröger, dass er für immer ein ausgeschlossener, ein Künstler sein wird – und schließt seinen Frieden damit.
Thomas Mann bezeichnete die Novelle als sein „literarisches Lieblingskind“. Für den Leser ist die Novelle eine gute Gelegenheit sich mit der mannschen Gedankenwelt, komprimiert auf ein Minimum an Seiten, auseinanderzusetzen. Natürlich hat auch dieser Text des deutschen Nobelpreisträgers seine Längen. So ist der in der Literaturkritik euphorisch gefeierte Dialog zwischen Tonio Kröger und Lisaweta Iwanowna über das Künstlertum zwar lesenswert, aber sicherlich keine Alltagslektüre.
Ich bin der Meinung, dass der Gegensatz Künstler – Bürgertum in dem rund zwanzig Jahre später erschienenen Roman „Der Steppenwolf“ von Hermann Hesse viel prägender umgesetzt wurde. Ich habe mich bei der Lektüre von Tonio Kröger gefragt, woran das liegt, und bin zu dem Schluss gekommen, dass es die Emotionalität von Hesse ist, die für mich fesselnder ist. Thomas Mann berichtet in seiner typisch hanseatischen Art mit einem zwinkernden Auge. Er bleibt beim Schreiben immer aus Distanz zu seinen Figuren und stellt sie uns analytisch vor. Hesse hingegen leidet mit seinem Harry Haller. Er hasst mit ihm das Goethebild, lehnt mit ihn die ganzen bürgerlichen Tanzvergnügungen ab und isoliert sich mit ihm. Was viele Kritiker an Hesse bemängeln, seine fehlende Distanz, sein Schreiben aus therapeutischer Sicht, ist mir das größerer Vergnügen.
Natürlich gibt es unzählige Ausgaben für „Tonio Kröger“ – gebunden oder als Taschenbuch. Meine besondere Empfehlung ist die Ausgabe „Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe – Die frühen Erzählungen“. Sehr schöner kleiner handlicher Leineneinband im Schuber. Vortrefflich für die Lektüre zwischen den Jahren – der nächste Mann steht schon in den Startlöchern. Acht von zehn weinende Könige.
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