Romane, in denen Literatur oder Bücher im Zentrum der Geschehnisse stehen, begeistern mich. Das war bei Umberto Ecos „Im Namen der Rose“ so und auch bei dem hart am Kitsch entlangschrammenden „Der Schatten des Windes“ von Carlos Ruiz Zafón. So unterschiedlich die Erzählstruktur bei den beiden Werken auch ist, so verschieden ihr intellektueller Ansatz – ich habe beide aus eben diesem Grund sehr gerne gelesen. Deshalb war meine Neugier sofort angestachelt, als die Büchergilde Gutenberg den Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ von Mohamed Mbougar Sarr ankündigte – die deutsche Originalversion ist im Hanser Verlag erschienen. In dem Werk des 33-jährigen Schriftstellers aus dem Senegal geht es um den fiktiven jungen Schriftsteller Diégane, der auf den Roman eines gewissen T.C. Elimane stößt. Dieses Buch, bereits 1938 veröffentlicht, hat eine unglaubliche Anziehungskraft auf jeden seiner Leser. Aber nach dem Erscheinen taucht Elimane ab. Seine Spur verliert sich. Diégane begibt sich in unserer Gegenwart auf die Suche nach dem Schöpfer eines ungewöhnlichen Werkes.
Sarr entwickelt in seinem Roman eine spannende Geschichte, die auf einem breiten Personentableau aufbaut. „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ ist kein Strandbuch. Nichts, was man mal eben so nebenbei liest. Der Autor taucht tief in die Geschichte seiner Protagonisten ein. Dafür muss er zurückgehen bis in die Kolonialzeit des Senegal. Besonders gelungen sind dabei die immer wieder auftauchenden Wendungen des Romans. Sarrs liebt es, den Leser zu überraschen. Dafür lässt er komplizierte Familienverhältnisse entstehen, Brüder, die sich hassen, weil sie dieselbe Frau lieben, Väter, die ihre Kinder hassen, aus Angst sie zu verlieren, und Mütter, die vor Kummer den Verstand verlieren – und über allem schwebt das allmächtige Mutterland Frankreich.
Vorbild im Baskenland?
Beim Lesen musste ich des Öfteren an den baskischen Autoren Jaume Cabré denken. Ich habe einige Parallelen zu seinen Romanen – etwa „Schweigen des Sammlers“, „Eine bessere Zeit“ oder „Stimmen des Flusses“ (wieso haben eigentlich immer spanische Autoren so kitschige Titel?) – gesehen. So ist auch Chabré beispielsweise ein Meister darin, Familiengeheimnisse langsam ans Licht kommen zu lassen. Er arbeitet sich ebenfalls wie Sarr gerne durch die Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte – entsprechend umfangreich ist auch sein Romanpersonal. Sollte das noch nicht ausreichen, lassen sich sicherlich auch im Stil der beiden Schriftsteller Gemeinsamkeiten finden – ihre poetische Sprache etwa oder ihre Vorgehensweise, wie sie Charaktere in die Geschichte einführen.
Erbe der Kolonialzeit
Sarr macht es ganz wunderbar. Bei der Recherche seines Helden zu Elimane stößt Diégane immer wieder auf das Erbe des Kolonialismus. Auf die Auswirkungen der Zeit, in der der Senegal noch Frankreich gehörte. Oberflächlich bietet uns Sarr einen recherchierenden Romanhelden an, gut und spannend erzählt, auf dem zweiten Blick demaskiert er die Folgen des Imperialismus bis in die Gegenwart. Sarr beschreibt authentisch, wie Elimanes Vater vom Patriotismus angesteckt wird, wie er sich für seine „Grande Nation“ in den Krieg wirft, dessen Ursachen und Ziele er gar nicht kennt. Er verlässt Afrika und bleibt ein Verschollener in den Grabenkämpfen des 1. Weltkrieges. Genauso verschollen, wie Elimane selbst: Missionare erkennen seine Intelligenz und schicken ihn nach Frankreich. Dort veröffentlicht er eben jenes eindringliche Werk, über das Jahrzehnte später Diégane stolpert.
Afrikanische Erzähler einst und jetzt
Sarr lässt sich viel Zeit dabei zu beschreiben, wie der Roman Elimanes in Frankreich aufgenommen wird. Er beschreibt den Jubel im Feuilleton. Zitiert dafür fiktive Artikel aus der Zeit. Dabei wird klar, dass die Kritiker im Wesentlichen nicht das Werk eines Schriftstellers feiern, sondern das Werk eines afrikanischen Schriftstellers. Afrikaner zu sein und Bücher schreiben zu können, schien Ende der 1930er-Jahre schwer vorstellbar. Nun können wir mit den Schultern zucken und sagen: „Nun gut, andere Zeit eben!“ Sarr geht weiter und schildert die Situation des Afrikaners Diégane im modernen Frankreich – und damit seine eigene Situation. Und wieder stoßen wir auf Kritiker, die das Buch loben und erwähnen, weil es ein Afrikaner geschrieben hat. Sarr ist in seiner Kritik unerbittlich. Und auch im Feuilleton der letzten Jahre wird immer wieder darauf hingewiesen, dass „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ von einem Afrikaner geschrieben wurden. Nichts dazu gelernt in über 100 Jahren? Die Schriften von Mohamed Mbougar Sarr werde ich in jedem Fall weiter im Auge behalten. Ich gebe neun von zehn Rimbauds.
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