Berlin im Mai 1933. In der Metropole regnet es. Das Kopfsteinpflaster glänzt, die Menschen huschen schnell umher. Wer nicht draußen sein muss, bleibt zuhause – möchte man meinen. Auf dem Opernplatz, dem heutigen Bebelplatz, hat sich dagegen eine große Menschenmenge versammelt. 70.000 sollen es sein, wird es später heißen. Unter ihnen ein Mann, den Hut tief ins Gesicht gezogen, der voller Ekel auf das sich ihm bietende Schauspiel blickt: Männer in braunen Uniformen und mit dem Hakenkreuz Emblem am Arm schleudern Bücher ins Feuer. Sie brüllen Wortfetzen von „zersetzendem Schrifttum“ und „undeutschem Geist“. Der Regen erschwert die Sache und die Feuerwehr muss mit Benzin nachhelfen. Die Menge johlt. Bei dem Mann, der sich irgendwann abwendet, handelt es sich um den Schriftsteller Erich Kästner. Er ist der einzige Autor, der vor Ort war und zusah, wie die SA und Studenten seine Bücher verbrannten.
Von Kästner hatte ich bisher nur Kinderbücher gelesen: „Das fliegende Klassenzimmer“, „Der kleine Mann“ und natürlich „Emil und die Detektive“. Kästner war für mich immer der begabteste Kinderbuchautor, der alle anderen in den Schatten stellt. Mit „Fabian“ habe ich mich nun an den ersten Roman für Erwachsene von Kästner gewagt. Eben jener „Fabian“, der den Flammen am Opernplatz zum Opfer fiel, weil es sich um pornographische Literatur handeln sollte.
Kästner stellt uns den Germanisten Dr. Jakob Fabian vor, der als Werbetexter in Berlin arbeitet. Der Schriftsteller entwirft aus meiner Sicht einen dreiteiligen Roman, ohne dieser Einteilung eine Kapitelstruktur zu geben. Sein Tenor ist ironisch. Im ersten Teil erleben wir Fabian, der sich ins Berliner Großstadtleben stürzt. Partys, Nachtlokale, Frauenbekanntschaften und amouröse Abenteuer warten überall. Der zweite Teil beginnt mit der Entlassung Fabians. Er erlebt seinen Absturz, wirft einen Blick auf die Gesellschaft. Kommunisten und Nationalsozialisten kämpfen in der Hauptstadt um die Vorherrschaft. Im dritten Teil des Buches zieht es ihn aufgrund eines persönlichen Schicksalsschlages zurück zu seinen Eltern. Hier lehnt er eine Anstellung bei einer Nazi-Zeitung ab.
„Fabian. Die Geschichte eines Moralisten“, wie der Roman komplett heißt, kann sicherlich auf verschiedene Weisen gelesen und interpretiert werden. Für mich war er vor allem eine hervorragende Milieuschilderung. Wir sind dabei, bei den rauschenden Nächten, der bitteren Armut und der politischen Zerrissenheit. Es sind die letzten Atemzüge der Weimarer Republik. Eine spannende Zeit, die einen der deutschen Kulturhöhepunkte markiert. Berlin war Weltmetropole und brauchte den Vergleich mit London oder Paris nicht zu scheuen. Als dies kommt bei Kästner zum Ausdruck, der übrigens Deutschland nicht verließ, sondern unter Pseudonym weiterarbeiten durfte – so schrieb er beispielsweise das Drehbuch zum Münchhausen-Film mit Hans Albers.
„Die Geschichte eines Moralisten“ so der Untertitel. Kästners Fabian glaubt an die Menschen. Er glaubt daran, dass es ein Miteinander gibt, dass die Gesellschaft zusammenhält. Wie wenig berechtigt diese Hoffnung ist, muss der Protagonist vor allem in den letzten Jahren der Weimarer Republik mit katastrophalem Ausgang erkennen. Bis jetzt bin ich mir nicht sicher – Achtung, hier wird etwas gespoilert – ob der abrupte Schluss des Romans zustande kam, weil Kästner es von Anfang an so vorgesehen hatte, weil der Abgabetermin drückte oder weil er einfach keine Lust mehr hatte auf seinen Helden. Wie auch immer. Kästners „Fabian“ hat an Aktualität nichts verloren. Es ist locker zu lesen, lustig, deprimierend und moralisiert ohne erhobenem Finger. Ich gebe neun von zehn Paul Godwins.
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