Durchgelesen und nach Gilead zurückgekehrt – Teil 179
- berndhinrichs
- 1. Juni
- 3 Min. Lesezeit

Was bei erfolgreichen Kinofilmen üblich ist, hat sich auf dem Buchmarkt noch nicht so durchgesetzt: auf einen erfolgreichen Roman folgt nicht zwangsläufig eine Fortsetzung. Der Schwarm – Teil 2 oder The Return of Es sucht man in der Buchhandlung vergeblich – auch wenn es hier Ausnahmen gibt. Ein Beispiel wäre Die Zeuginnen von Margaret Atwood. Die Fragen, die sich mir stellten waren, ob der Roman mit dem so genialen Report einer Magd mithalten kann oder ob es sich nur um einen lauwarmen Aufguss handelt.
Worum geht es? Fünfzehn Jahre sind vergangen seit Desfreds letzter Aufzeichnung. Gilead besteht weiterhin – äußerlich gefestigt, innerlich jedoch zunehmend von Rissen durchzogen. Die Zeuginnen erzählen von diesem bröckelnden Machtgefüge, und zwar aus drei verschiedenen Perspektiven, die sich Kapitel für Kapitel ineinander verschränken. Da ist zunächst Tante Lydia, jene ambivalente Figur aus dem ersten Roman, nun eine der mächtigsten Frauen in Gilead – eine Frau, die zwischen Unterwerfung und Strategie, zwischen Macht und moralischer Schuld pendelt. Sie führt heimlich ein Archiv, das die inneren Abgründe des Systems dokumentiert. Ihr Bericht ist klug, abgründig und voller doppelter Böden. Die zweite Stimme gehört Agnes Jemima, einem Mädchen aus einer privilegierten Gilead-Familie. Als Kind wächst sie behütet, aber streng indoktriniert auf. Erst als sie hinter die Kulissen des Systems blickt und sich Fragen über Herkunft, Wahrheit und ihre Rolle in der Gesellschaft stellt, beginnt sie, eigene Wege zu suchen. Die dritte Perspektive stammt von Daisy, die im benachbarten Kanada aufwächst – zunächst nichtsahnend über ihre Verbindung zu Gilead. Doch dann verändert ein Attentat ihr Leben, und sie gerät mitten hinein in einen gefährlichen Auftrag des Widerstands.
Die Zeuginnen lässt und noch tiefer in den Gilead-Kosmos eintauchen. Konnten wir im ersten Teil vor allem erfahren, wie sich eine selbstständige und starke Frau in den neuen Machtstrukturen einfügt, so wird dies nicht nur vertieft, sondern durch die unterschiedlichen Blickwinkel der drei Protagonistinnen, durchleuchten wir die Strukturen der fiktiven Autokratie. Wie funktioniert ein Staat, der auf Ausbeutung der Frauen setzt? Welche Druckmittel setzt er ein? Wie gelingt es ihm Verbündete unter Frauen zu finden, um eine Hierarchie aufzubauen. Diesen und ähnlichen Fragen spürt Atwood im zweiten Teil ihrer Geschichte nach.
Dabei schafft es die Autorin eine fesselnde Geschichte zu erzählen, die mich von der ersten Seite an in ihren Bann schlug. Dies gelingt Atwood vor allem dadurch, dass sie die drei Geschichten der Protagonistinnen zu einem Mosaik verbindet, das sich erst nach und nach zusammensetzt. Sie zeigt, wie sich ein totalitäres System selbst unterwandert – nicht mit Bomben, sondern mit Information, Loyalitätsbruch und dem Mut zur Entscheidung. Jede der drei Frauen trägt ihren Teil dazu bei, dass Gilead ins Wanken gerät. Ein großer Unterschied zum ersten Teil.
Denn im Gegensatz zu Report einer Magd schwingt bei Die Zeuginnen ganz viel Hoffnung mit. Persönliches Engagement, Mut und Empathie können uns helfen antidemokratische Machtstrukturen zu Fall zu bringen. Insofern nicht nur ein hoffnungsvolles, sondern zu gleich auch ein hochaktuelles Buch. Atwoods Schreibstil ist wie schon im ersten Teil sachlich und unpathetisch.
Die Zeuginnen ist alles andere als ein warmer Aufguss von Report einer Magd. Der Roman ist eine wundervolle Ergänzung, weil viele Innenansichten aus Gilead hinzukommen, die helfen ein Gesamtbild des Staates zu zeichnen. Nach etwas längerer Zeit mal wieder ein Roman, bei dem ich vom ersten bis zum letzten Satz gefesselt war. Ich gebe zehn von zehn Zeugenberichte.
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