Es ist wirklich ein Jammer: Uwe Timm ist nicht nur einer der Autoren, von denen ich fast alles gelesen habe, sondern er gehört auch in die Riege Schriftsteller, deren Werk angesichts der schier übergroßen Flut an belangloser Literatur größtenteils unter dem Radar im Buchhandel laufen. Seine Sprache überwältigend, seine Bücher kreisen häufig um die wilden Studentenjahre in den 1960er-Jahre. Freitisch eine kleine Novelle von 2011 widmet sich auch diesem Thema. Allerdings aus der Rückschau und angesiedelt ist sie nicht Ende dieses aufregenden Jahrzehnts, sondern an seinem Anfang.
In Timms Novelle begegnen sich nach vielen Jahren zwei ehemalige Studienfreunde wieder: Der Erzähler, ein pensionierter Lehrer und Antiquar in Anklam, und Euler, ein erfolgreicher Unternehmer in der Müllwirtschaft. Während ihrer Studienzeit in den 1960er Jahren an der Universität München trafen sie sich täglich am sogenannten Freitisch in einer Kantine. Damals dominierte die Leidenschaft für Literatur ihre Gespräche, allen voran die Begeisterung für Arno Schmidt. Besonders Euler, ein glühender Anhänger Schmidts, versuchte sogar, den Meister in seinem Haus in Bargfeld zu besuchen. Doch die Wiederbegegnung der beiden Männer nach all den Jahren zeigt, wie weit sie sich auseinandergelebt haben. Während der Erzähler weiterhin in literarischen Erinnerungen schwelgt und Arno Schmidt verehrt, hat Euler sein Interesse an Literatur verloren. Stattdessen schwärmt er nun von seiner Braut und den Herausforderungen der Müllwirtschaft. Die einstige Faszination für Sprachkunst und Literatur hat der nüchternen Realität des Geschäftslebens Platz gemacht.
Freitisch hat alles, was eine Novelle ausmacht: Kürze, einen Wendepunkt und ein unerhörtes Ereignis. Der Plot den Timm liefert, ist nicht wirklich neu: Sich treu gebliebener, literaturverliebter Kauz trifft auf einen alten Freund, der Karriere gemacht hat und mit seinem vorherigen Leben gebrochen hat. So ein bisschen mit dem Hammer philosophiert. Und doch. Freitisch zeichnet sich durch ein paar Dinge aus, die die Novelle zum Lesevergnügen machen. Neben der wirklich pointierten Sprache ist dies vor allem die Authentizität seiner Schilderungen. Es wurde bereits an anderer Stelle erwähnt: Timm kennt die 60er-Jahre als Student. Er beschreibt aus erster Hand und allein das macht die Novelle zu einem Lesevergnügen ersten Ranges. Vielleicht mit dem Hammer philosophiert, aber es gibt sie: Diese Freunde die ihr früheres Ich in eine Vitrine stellen. Es sehnsuchtsvoll betrachten aber seine früheren Ideale verleugnen. Timm führt uns diesen Typus vor, führt ihn vor.
Während ich diese Zeilen schreibe, habe ich gerade ein Wochenende mit alten Schulfreunden hinter mir. Denn es gibt auch die anderer Seite dieser Treffen: blindes Verständnis und Wohlfühlen. Danke dafür Jungs! Viele Timms befinden sich nicht mehr auf meiner Leseliste. Ein paar noch. Ich freue mich auf jedes einzelne Buch. Freitisch war wieder einmal ein Gewinn. Ich gebe neun von zehn Zettels Träumen.
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