„Mein Vater und seine Kollegen wurden nicht mehr gebraucht. Ich war ihnen etwas schuldig, denn in meiner Kindheit und Jugend begleitete ich meinen Vater auf seinen Reisen.“ So äußert sich die chilenische Autorin Maria José Ferrada in einem Interview für das Magazin der Büchergilde Gutenberg über die Motive zu ihrem Roman „Kramp“. Das Buch ist dort für Mitglieder in der Reihe “Weltenempfänger“ und bereits 2021 im Berenberg Verlag für den Buchhandel erschienen.
„Kramp“ spielt in den 1980er-Jahren in Chile. Das Land ächzt unter der Diktatur von Augusto Pinochet. Ferrada erzählt die Geschichte von D, einem Eisenwarenhandelsreisenden, der mit seiner siebenjährigen Tochter M Verkaufstouren unternimmt. Alle auftretenden Figuren versieht Ferrada mit Buchstaben. Keiner bekommt in dem Roman einen richtigen Namen. Das sei, so die Autorin, dem Umstand geschuldet, dass viele beschriebene Charaktere echten Personen entsprächen. Für den Leser bekommt die Geschichte dadurch eine Verallgemeinerung – D steht für das Schicksal vieler. M und D haben ein erfolgreiches System entwickelt, in dem Ds Gerissenheit und Ms kindliche Unschuld eine wichtige Rolle spielen. Aber in diese glücklichen Tage von Vater und Tochter schimmert immer wieder die tödliche Bedrohung der Diktatur durch. Das ist bei Ferrada um so schrecklicher, da ihr ganzer Roman aus der Sicht von M geschrieben wurde.
Ein Kind als Erzählerin. Das überrascht bei Ferrada nicht sonderlich, denn die Chilenin hat sich bisher durch das Schreiben von rund 50 Kinderbüchern hervorgetan. „Kramp“ ist ihr erster Roman für Erwachsene. Das verbindende Element zu ihrem vorherigen literarischen Schaffen ist die Erzählperspektive. Man merkt ihren Formulierungen an, dass sie Erfahrung damit hat, die Welt aus Sicht eines Kindes darzustellen. In Chile der 80er-Jahre bedeutet das: Eine Welt in der Frauen nach ihren Männern und Eltern nach ihren Kindern suchen. Allerdinge wirkt für M die Diktatur Pinochets weniger bedrohlich als für uns, die wir die Greuel des Militärs in Chile kennen. Sie spricht nicht von Toten und Vermissten, für sie sind es einfach nur Gespenster. Die Kinderperspektive schafft die Distanz, um sich mit der chilenischen Geschichte während der Diktatur auseinandersetzen zu können.
Das Leben von D und M nimmt eine dramatische Wendung, als sie den Fotographen E kennenlernen, der sich weniger für Nägel, Fuchsschwänze und Türklinken interessiert, dafür umso mehr für die „Gespenster“. D nimmt ihn in seinem Auto mit und fährt ihn in Dörfer, in denen es vor „Gespenster“ nur so wimmeln soll. Die Geschichte nimmt eine tragische Wendung, die das Kind M nicht mit allen Konsequenzen erfassen kann.
Die Stärke von Ferradas Roman ist die Schilderung der Einzelschicksale. Am Kleinen zeigen, wie das Große funktioniert. „Mich interessieren die Nebenfiguren dieser Epoche. All die Menschen, die auf den Fotos der damaligen Zeit im Hintergrund zu sehen sind, sind unscharf. Mich interessiert, wie sich die Diktatur auch auf ihr Leben auswirkte“, erläutert entsprechend die Autorin gegenüber der Büchergilde.
Wenn ich dem Roman etwas vorwerfen kann, dann ist es seine Kürze. Mit knapp 130 Seiten, die großzügig gesetzt sind, ist er einfach viel zu kurz. Ich wollte noch viel mehr wissen – über M, über D und über E. Ich fand nicht, dass ihre Geschichten – gemeinsam mit den vielen anderen schrägen Handelsvertretern – bereits auserzählt war. Ich habe bisher nicht viele chilenische Autoreninnen und Autoren gelesen, die sich mit dem Schrecken der Pinochet-Zeit auseinandersetzen. Dieses Buch hat aber Lust darauf gemacht noch viel mehr zu entdecken. Aufgrund des Makels seiner Kürze gebe ich dem Roman acht von zehn Eisenwarenhandlungen.
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