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berndhinrichs

Durchgelesen und Popcorn-Kino erlebt – Teil 154




„Ich gab ihr auf meine Weise zu verstehen, dass sie gut war – ich konnte nicht anders -, und sie ließ es widerspruchslos über sich ergehen. Auch Liebhabern, die nicht den Rang eines Ehemannes einnehmen, muss man hin und wieder eine kleine Freiheit gewähren.“ Das dürfte die verklausulierteste Sexszene sein, die ich jemals gelesen habe. Beschrieben wird ein junges Paar, die ineinander verliebt ist, aber noch nie Sex miteinander hatten und auf absehbare Zeit auch nicht haben wird. Gefunden bei Bram Stokers Das Geheimnis der See – jüngst erschienen im Mare Verlag.


Der Zeitpunkt, wann das Geheimnis der See spielt, ist ziemlich genau festzulegen. Denn im Roman ist die laufende kriegerische Auseinandersetzung zwischen Spanien und den USA um die Überseegebiete der Europäer ein wichtiger Aspekt. Dieser Krieg fand von April bis August 1898 statt. Wir lernen Archibald Hunter kennen. Einen englischen Gentleman, der an der schottischen Ostküste in Cruden Bay, unweit von Aberdeen, seinen Urlaub verbringt. Jahr für Jahr. Ein komischer Zufall will es, dass er feststellt, dass er das zweite Gesicht hat – er kann Dinge voraussehen. Zeitsprung, ein Jahr später. Hunter will sich mittlerweile vor Ort niederlassen und baut an der Cruden Bay ein Haus. Bei einem Spaziergang errettet er die geheimnisvolle Marjory und ihre Gouvernante Mrs Jack vor dem Ertrinkungstod. Hunter ist vom Fleck weg in Marjory verliebt. Während er die schöne Marjory umgarnt, hilft sie ihm, Dokumente zu entschlüsseln, in denen es um eine Jahrhunderte alte Geschichte über einen verlorenen spanischen Schatz geht. Mit diesem Wissen wächst auch die Bedrohung durch eine Gruppe spanischer Verschwörer. Archibald und Marjory geraten in ein Netz aus Geheimnissen, Gefahr und einer verzweifelten Schatzsuche, die sie bis an die Grenze ihrer Kräfte führt, denn die Gegenseite schreckt auch vor Entführung nicht zurück.


Der 1912 gestorbene irische Schriftsteller Bram Stoker schreibt sicherlich keine anspruchsvolle Literatur. Mit Dracula ist ihm ein Roman von Weltruhm gelungen. Und auch dieser Genre prägende Text ist – wie die anderen Veröffentlichungen von Stoker – Unterhaltungsliteratur. Was Das Geheimnis der See nicht schlechter macht. Seine Sprache wirkt in jedem Moment antiquiert – wie tief aus dem 19. Jahrhundert stammend. Darauf muss sich der Leser einlassen. Ich habe angesichts der Formulierungen öfters einmal den Kopf geschüttelt und dachte: „Mensch Bram, weißt Du eigentlich, wie Thomas Mann zwei Jahre zuvor bei seinen Buddenbrooks formuliert hat? Du hängst der Zeit leider 50 bis 60 Jahre hinterher“. Aber im Gegensatz zum deutschen Literaturnobelpreisträger bietet Stoker dem Leser eine wahre Achterbahnfahrt. Im Stil eines Kinoblockbusters erleben wir eine Geschichte mit Gangstern, alten Dokumenten, großen Schätzen, Helden, Ehrgefühl, großer Liebe und einem schönen Happy-End. Ein typisches Personentableau bei Stoker.


Der Anfang des Buches wurde 1901 als Kurzgeschichte unter dem Titel The Seer im London Magazine abgedruckt. Das merkt man beim Lesen, denn ab Seite 60 beginnt die eigentliche Geschichte des Romans. Die Idee mit dem zweiten Gesicht ist nett eingewoben und aus dem Beginn des Romans übernommen, aber nicht unbedingt notwendig. Beim ersten Lesen hatte ich den Eindruck, dass Stoker einen Feuilletonroman geschrieben hat – also einen Roman, der vorab in einer Zeitung erschienen ist. Zeichen dafür sind kurze Kapitel mit je einen eigenen Spannungsbogen. Allerdings habe ich keine Anzeichen gefunden, dass der Roman vorveröffentlicht wurde.

  

Der in deutscher Erstveröffentlichung vorliegende Roman ist bei Mare in der Klassiker-Edition erschienen. Und das bedeutet eine hochwertige Ausstattung, wie sie ihres Gleichen sucht. Der Band ist in bedrucktem Leinen gebunden. Als Bildmotiv wählte der Verlag das Cover der englischen Erstausgabe von 1902. Der Schuber ist wie bei allen Klassiker-Bänden von Mare extrem stabil und das hochwertige Papier, der exzellente Druck sowie der ästhetische Blocksatz machen mich zum absoluten Fan dieses Bandes.


Ich gebe zehn von zehn Francis Drakes.

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