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berndhinrichs

Durchgelesen und Schiffbruch erlitten – Teil 92


Es gibt Bücher, die lese ich, obwohl es kein Genuss ist. Der Roman „Das Floss der Medusa“ von Franzobel ist so ein Buch. Der Österreicher, der eigentlich Franz Stefan Griebl heißt, berichtet darin über den Schiffbruch des französischen Fregatte Medusa vor der westafrikanischen Küste aus dem Jahr 1816. Die französische Marine hatte viel zu wenig Rettungsboote vorgesehen, so dass eine beträchtliche Anzahl der Passagiere auf einem Floss an Land geschleppt werden sollten. Dies Vorhaben gelangen aber nicht, da die Schleppleinen gekappt wurden und das Floss 13 Tage auf dem offenen Meer trieb, bevor es gerettet wurde. Franzobel schildert den unmenschlichen Überlebenskampf von rund 150 Menschen auf diesem Floss.


Ich spüre von Beginn an diese Enge. Kaum auf dem Floss mussten wir im hüfthohen Wasser stehen. Unser Gewicht war zu schwer und drückte die Holzaufbauten des Floßes unter Wasser. Hinzukam, dass wir so eng beieinanderstanden, wenn am Rand ein Kamerad einen Schritt nach hinten getan hätte, wäre er unweigerlich ins Meer gestürzt und der Atlantik hätte ihn verschluckt. Aber schon in der ersten Nacht gingen sich die Teerjacken und Soldaten an den Kragen. So verringerte sich Stunde um Stunde unsere Zahl.



Das erste Mal aufmerksam auf das Schicksal der Medusa wurde ich in dem Buch „Die Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln“ von Julian Barnes. In diesem überaus lesenswerten Buch gibt es ein Kapitel zur Medusa, plus (zumindest in der alten Haffmanns-Ausgabe) einer herausnehmbaren Miniatur des Gemäldes von Théodore Géricault, dass das Floss der Medusa darstellt. Barnes berichtet von Kannibalismus und Metzeleien auf dem Floss – schier unglaubliche Zustände.


In seinem Roman schildert Franzobel diese Ereignisse mit aller Liebe zum Detail – stellenweise nur schwer zu ertragen. Dabei nimmt das Schicksal der Flossschiffer kaum ein Drittel des gesamten Werkes ein. Der Rest des Romans beschäftigt sich mit dem Leben an Bord. Dennoch sind es vor allem diese Stellen, die das Werk für mich immer unvergessen machen werden.


Franzobels Stärke ist der ständige Perspektivenwechsel. Mal als allwissender Erzähler, dann wieder aus Sicht eines Matrosen, des überforderten Kapitäns oder des Adels. Mit spitzer ironischer Feder gibt er uns so einen Einblick in das feudalistische Frankreich nach Napoleons Verbannung – und wir merken, dass sich die Gräben der Revolution sich noch tief durch die Gesellschaft ziehen.


Franzobels Roman ist in höchstem Maße fesselnd. Er führt uns Unmenschlichkeit und Dummheit gleichermaßen vor Augen – und das alles am Abgrund einer Katastrophe, die das absolut Schlimmste aus den Menschen herausgeholt hat. 150 Menschen gingen auf das Floss, nur 15 konnten es noch lebend verlassen. Und obwohl ich den Roman nicht aus den Händen legen konnte, war ich froh, als ich nach knapp 600 Seiten das vermaledeite Floss der Medusa und die Schar der Überlebenden endlich verlassen konnte. Mit Ekel und Abscheu wendete ich mich noch einmal um, spukte aus und verfluchte den Tag, an dem ich den Kahn geentert habe. Ich gebe zehn von zehn Davy Jones.

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