top of page
berndhinrichs

Durchgelesen und um den Fortschritt gekämpft – Teil 130




Jede Familie hat ihre Legenden. Personen oder Ereignisse, die im Dunst der Vergangenheit zu versinken drohen. An die man sich eben noch erinnert und die auf Familientreffen durch Erzählungen zu neuem Leben erwachen. Ihr Wahrheitsgehalt ist für die später Geborenen nur noch schwer zu prüfen. In meiner Familie gab es Sagen um U-Boot-Kapitäne und Kapitäne mit langen roten Haaren, vielbefahren auf Segelschiffen der Handelsmarine – bis um Cap Horn herum. Geschichten, bei denen Kinder ihre Augen weit aufreißen, wenn sie erzählt werden. In Der Mann auf dem Hochrad lässt uns Uwe Timm an so einer Familienlegende teilhaben.


Der 1984 erschienene Roman entführt uns nach Coburg im ausgehenden 19. Jahrhundert. Der Präparator Franz Schröder versucht dem Hochrad zum Siegeszug zu verhelfen. Unterstützt wird er dabei tatkräftig von seiner Frau Anna, die sich sogar selbst in den Sattel schwingt – zu der damaligen Zeit ein Tabubruch. Denn wie sollte Frau – angemessen im Damensitz, mit beiden Beinen zu einer Seite, der Röcke wegen. Aber wie sollte „Dame“ unter diesen Umständen treten. Dafür kleidet sich Anna in einen praktischen syrischen Unterrock, eine Art Hosenrock. Der Skandal war perfekt! In dieser Aufmachung verlässt eine Dame von Welt nicht das Haus. Und wenn sie dann noch mit einem All Heil! auf den Lippen, dem Radlergruß, durch die Straßen saust, war klar, dass sie auf Jahre hin Gesprächgegenstand in der Kleinstadt sein würde. Schröder hingegen musste sich mit vielen Widersachern auseinandersetzen. Gegner des Radverkehrs, Spießern und dem aufkommenden Niederrad, mit dem wir uns heute noch fortbewegen.


Der Mann auf dem Hochrad, ein Text aus seinen frühen Jahren, ist trotz seines Alters, immerhin 40 Jahre sind seit seinem Erscheinen vergangen, aktueller denn je. Denn Timm erzählt eine Parabel auf den Fortschritt. Die Pharisäer aus Coburg übernehmen in diesem Fall sinnbildlich die Position der Fortschrittskritiker von heute. Wie heute wurden Versammlungen einberufen, in denen teils höhnisch über die modernen Ideen gelacht und Unverständnis bekundet wurde. Wenn heute die gealterten Dieter Hallervorden oder Heinz Rudolf Kunzes dieser Welt vor ein Publikum treten und davor warnen, dass elitäre Kreise uns eine gegenderte Sprache aufzwingen wollen, muss ich an das Coburg von Timm denken. Oder auch wenn es heißt, ohne Atomstrom gehen hier in wenigen Jahren die Lichter aus, weil neue Energiequellen nicht funktionieren: Unser Coburg. Ein besonderer Höhepunkt in dem Buch ist in diesem Zusammenhang die von Timm beschriebenen Bürgerversammlung – gegen den Radverkehr. Großartig, wie der Autor die Fahrradgegner beschreibt und vor allem, wie Anna der ganzen Antitruppe und ihren Argumenten mit nur einem Satz den Wind aus den Segeln nimmt. Grossartig!


Waren es in Coburg des 19. Jahrhunderts die Fahrgeschwindigkeit und die Sicherheit der Fußgänger über die sich die Bedenkenträger echauffierten, geht es heute um erneuerbare Energien, moderne Medizin oder ein anderes gesellschaftliches Zusammenleben. Indem Timm den Gegenwind schildert, auf den Schröder trifft, hält der auch den heutigen reaktionären Kräften den Spiegel vor. Das er bei seiner Kritik den eigenen Protagonisten nicht ausspart, indem er ihn über das Niederrad, dass sich am Ende bekanntlich durchgesetzt hat, spotten lässt, spricht für den Autoren.


Mit Der Mann auf dem Hochrad habe ich einen Timm-Roman gelesen, der seine heutige Stellung innerhalb der Literatur begründet. Seine Sprache ist pointiert, von sarkastisch über melodramatisch bis hin zu poetisch und humorvoll. Satz für Satz ein echter Genuss. Zehn von zehn Cyclisationen.

13 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Comments


bottom of page