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berndhinrichs

Durchgelesen und unter Wölfen gelebt – Teil 116




Ich war 16 oder 17, als ich den Roman das erste Mal gelesen habe. Ich hatte damals das Gefühl, dass der Text nur für mich verfasst wurde. Er handelt von mir. Und er wurde für ich geschrieben, um mir zu helfen. Das hatte ich seitdem nie wieder bei einem Roman erlebt. Die Rede ist von Hermann Hesses Steppenwolf. Das Gefühl des Verstehens ist bis heute geblieben – die Intensität indessen hat etwas nachgelassen.


Worum geht es im Steppenwolf? Der Roman stellt Harry Hallers Kampf mit seinem dualen Selbst, seiner inneren Zerrissenheit, seiner bürgerlichen und seiner animalischen Natur dar. Haller durchlebt eine existenzielle Krise, die durch Begegnungen mit Menschen gelindert oder verschlimmert wird. Die Geschichte erkundet Themen wie die Suche nach Identität, den Konflikt zwischen Kultur und Natur, das Leben in der modernen Zivilisation sowie die spirituelle Erleuchtung. Am Ende erfährt Haller, dass es seine Einstellung ist, die den Unterschied macht.


Irgendwo habe ich mal gelesen, dass man Hesse nur in der Jugend lesen könne. Vielleicht noch einmal in späteren Jahren, um ihn dann aber in die ewigen Buchjagdgründe zu verdammen. Sein Werk sei kitschig, immer gleich, weltabgewandt und bemüht esoterisch. Ich habe viel in dem Werk von Hermann Hesse gelesen, seine Romane, Märchen, Erzählungen und Gedichte. Nicht alles ist gelungen. Nicht alles hat mich überzeugt. Aber dennoch gibt es keinen anderen deutschen Autoren, der mein Leben mehr beeinflusst hat. Und wesentlichen Anteil daran hat Der Steppenwolf.


Als ich den Roman vor kurzem zum wiederholten Mal gelesen habe, zeigt sich mir erneut, dass er voller Glanzstücke ist – Szenen, die sich tief einbrennen und bewegen. Da ist beispielsweise die Szene in der Haller von einem jungen Professor zu sich nach Hause eingeladen wird. Hier trifft der Steppenwolf auf die personifizierte Bürgerlichkeit, die sich in einer einfachen Goethe-Darstellung manifestiert. Mit wie viel Wonne lese ich bis heute die Stelle, in der Haller seine Gastgeber dafür verbal hinrichtet. Oder die Szene im Treppenhaus seiner Vermieter, das voll Spießigkeit und Bürgerlichkeit duftet. Die Pflanze auf dem Treppenabsatz die Geborgenheit verspricht. Großartig beschrieben. Oder das Aufeinandertreffen mit Hermine, Maria und Pablo. Die Erotik, das Verlangen und vor allem das sich verstehen fühlen und deshalb fallen lassen können. Hesse liefert in diesen und vielen anderen Szenen so viel Identifikationsmaterial, so viel Erkenntnisgewinn – natürlich vielleicht in erster Linie für den heranwachsenden Menschen. Aber eben nicht nur. Der Steppenwolf bietet für jede Lebensphase eine überaus spannende Lektüre. Und wer den Steppenwolf gelesen hat, sollte, nein muss gleich weitermachen mit der Gedichtsammlung Krisis – ein Stück Tagebuch.


Ich weiß nicht, wie oft ich den Roman bereits gelesen haben – unzählige Male und er trifft immer wieder komplett in meine Gedanken- und Emotionswelt. Mehr als einmal schnalze ich mit der Zunge angesichts der herausragenden Formulierungen. Deshalb satte 10 von 10 Autojagden.


Epilog: Als ich den Roman Anfang der 1990er-Jahre während meiner Buchhändlerlehre wieder einmal las, hatte ich das Gefühlt, ich müsse meine Gedanken zu Autor und Werk jemandem mitteilen. In meinem Umfeld stieß ich auf wenig Begeisterung. Kurzentschlossen schrieb ich an seinen Sohn Heiner Hesse – alle meine Empfindungen, alle meine Gedanken. Ich bekam sogar eine schriftliche Reaktion, die ich in Ehren halte.

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