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  • berndhinrichs

Durchgelesen und über Schullektüre nachgedacht – Teil 122




Schullektüre! Bei diesem Wort sträuben sich bei den Meisten die Nackenhaare. Und auch ich hatte nicht immer Spaß mit den Werken von Goethe über Keller bis hin zu Frisch und Grass. Erstaunt war ich nur, als meine Kinder mir mitteilten, dass sie in der achten Klasse gerade Sonne und Beton von Felix Lobrecht lesen würden. Wie Felix Lobrecht? Richtig gelesen, der Comedian, der immer auf asozial macht, hat einen – natürlich autobiographisch inspirierten! – Roman geschrieben. Ich bin weit davon entfernt zur Fraktion der „Früher war alles besser“-Jammerer zu gehören. Aber Lobrecht? Ist das Euer Ernst?


Das brachte mich zur Frage, ob die Klassiker der deutschen Literatur, die auf dem Schulplan standen, heute noch funktionieren und Bedeutung haben. Kurz: Was bieten uns die Werke von Goethe bis Grass heute noch, außer einer wundervollen Sprache. Mein Testobjekt: Max Frisch Homo Faber.


Frisch beschreibt in Homo Faber die Odyssee von Walter Faber, einem rationalen und technisch versierten Ingenieur, dessen Leben durch eine ganze Reihe von unglaublichen Zufällen, immer wieder entscheidende Wendungen bekommt. Nach einem Flugzugabsturz in der mexikanischen Wüste lernt er Herbert kennen, den Bruder seines ehemals besten Freundes Joachim. Walter erfährt, dass dieser in den Wirren des 2. Weltkrieges Walters große Liebe Hannah geheiratet hat. Schnell war der Entschluss gefasst, dass Walter und Herbert zusammen Joachim besuchen, der mittlerweile in Guatemala lebt. Mitten im mittelamerikanischen Dschungel müssen Herbert und Walter feststellen, dass sich Joachim erhängt hat. Zurück in New York hält es Faber in seinem geordneten Leben nicht aus. Kurz entschlossen bucht er eine Schiffspassage nach Frankreich und lernt auf dem Schiff Sabeth kennen. Mit ihr reist er ein wenig durch Europa und es beginnt eine Affäre zwischen den beiden. Schließlich muss Walter feststellen, dass Sabeth die Tochter von Hannah ist.


Frisch stellt in seinem Roman die zentralen Fragen des Lebens in den Mittelpunkt: Gegensatz zwischen Natur und Technik, zwischen Glauben an die Vorherbestimmung und dem Kampf gegen die Unausweichlichkeit des Schicksals. Es entfaltet sich ein fesselndes psychologisches Drama. Frischs Erzählweise entführt den Leser in die Gedankenwelt seines Protagonisten, der zwischen der Kontrolle über sein Leben und der erbarmungslosen Unberechenbarkeit des Daseins gefangen ist. Wie planbar ist das Leben? Gibt es ein Schicksal? Fragen, die auch heute noch von elementarer Bedeutung sind – vielleicht mehr denn je. Denn in Krisenzeiten, von Corona über Krieg in Europa bis hin zum lebensbedrohenden Klimawandel – suchen Menschen nach neuen Antworten.


Wer Spaß an der Interpretation von literarischen Texten hat, dem bietet Homo Faber ein Füllhorn an Ansätzen. Aber nicht nur für angehende oder aktive Literaturwissenschaftler ist die Lektüre etwas. Frisch Roman ist Lesespass pur. Seine Sätze sind kurz und knackig und gemäß der Philosophie seines Protagonisten kommt er schnell auf den Punkt. Da das Schicksal immer wieder in Fabers Leben erbarmungslos zuschlägt, sind absonderliche und viele Wendungen in der Geschichte und gute Unterhaltung garantiert. Zum Schluss noch ein Wort zur Ausgabe: Homo Faber gibt es bei Suhrkamp im Taschenbuch. Ich habe die wundervolle Ausgabe der Büchergilde Gutenberg gelesen – leider vergriffen. Fadengehefteter Ganzleineneinband mit geprägtem Rücken- und Deckeltitel, auflaminiertem Deckelbild, Strukturpapiervorsätzen und Lesebändchen. Dabei illustriert von Felix Scheinberger.


Homo Faber offenbart keinen Lebensplan, gibt keine Lösungen, aber er stellt die richtigen Fragen. Meine Antworten waren beim ersten Lesen in der zehnten Klasse sicherlich ganz andere als heute. Wer Homo Faber bisher noch nicht gelesen hat, muss diesen unverzeihlichen Fehler schleunigst nachholen. Alle anderen sollten es unbedingt nochmal lesen. Ich gebe zehn von zehn Schlangen.

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