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berndhinrichs

Gelesen und das Grauen kennengelernt – Teil 148




Ich gehöre noch zu einer Generation von Menschen, in der das Grauen ein Wort mit neun Buchstaben ist: Auschwitz! Ob im Elternhaus, im Fernsehen oder vor allem in der Schule: Überall begegnete ich der Ortschaft. In Südpolen gelegen, knapp 40.000 Einwohner, heißt es heute Oświęcim und wurde unter seinem deutschen Namen zum Inbegriff der industriellen Vernichtung von Menschen. Als rund 20 Jahre nach dem Krieg, zwei Jahrzehnte in denen viele der Täter etwa als Bahnbeamte, Versicherungsagenten oder Polizisten ein ruhiges Leben führen konnten, in Frankfurt am Main der erste Auschwitzprozess begann, saß im Publikum ein rund 50jähriger Schriftsteller – Peter Weiss. Seine Eindrücke verarbeitete er in seinem Theaterstück Die Ermittlung – Oratorium in elf Gesängen.


Theodor W. Adorno formulierte in seinem 1949 verfassten und 1951 veröffentlichten Aufsatz „Kulturkritik und Gesellschaft“ den Satz: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“ Diese Aussage wurde auf verschiedene Weise interpretiert. Manche verstanden es als spezifisches Verbot, über Auschwitz und die Konzentrationslager zu schreiben. Weiss hat den einzig möglichen Weg gewählt: emotionslos, eindringlich und brutal. Er lässt in seinem Theaterstück von 1965 die Opfer zu Wort kommen. Grundlage sind die öffentlichen Prozessprotokolle, die er unbearbeitet verwendete.


Das Fehlen jeglicher Emotionen bei dem Stück, zeichnet sich bereits in dem Untertitel Oratorium in elf Gesängen ab. Denn ein Oratorium ist wie ein großes Konzert, bei dem eine Geschichte erzählt wird, meistens aus der Bibel oder mit einem religiösen Thema. Der Gesang wird dabei von einem Orchester sie begleitet. Aber im Gegensatz zu einer Oper, die wie ein Theaterstück mit Schauspielern, Kostümen und Bühnenbildern ist, gibt es beim Oratorium keine Schauspielerei. Weiss wollte genau das: Schauspieler, die nicht schauspielern. Ein Gedanke, den die Verfilmung von 2024 eins zu eins umsetzt.


Weiss hat in seinem Oratorium elf Gesänge herausgearbeitet. Dabei folgt er dem Leben der Lagerinsassen. Er beginnt mit dem Gesang von der Rampe und der Aufnahme. Dann folgen sieben Gesänge zu einzelnen Personen und Orten im Lager. Es folgt in seinem Stück der Gesang vom Zyklon B, bevor er mit dem Gesang von den Feueröfen endet. Das sitz und lässt den Leser sprachlos zurück.


Die Ermittlung von Peter Weiss dürfte das grauenvollste Theaterstück sein, dass ich jemals gelesen habe. Vermutlich ist es gerade heutzutage sehr wichtig und gehört auf die Bühnen, damit Ausdrücke wie Vogelschiss der Geschichte und erinnerungspolitische Wende um 180 Grad zeigen, was sie sind: Äußerungen von Menschen, denen komplett jedes historische Bewusstsein fehlt. Ich gebe zehn von zehn Punkten.

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