Wer den Buchblog „Lesemeer“ schon etwas länger verfolgt, weiß, dass ich mich mit großer Begeisterung auf jeden neuen Band der Hamburger Ausgabe der Werke von Siegfried Lenz stürze. Ich hatte die Gelegenheit mit Herausgeberin Dr. Maren Ermisch, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Prof. Dr. Dr. h. c. Heinrich Detering, Universität Göttingen, ein Gespräch zu führen, über die Arbeit an der Edition, die Herausforderungen dabei, sensationelle Entdeckungen im Literaturarchiv in Marbach und der Bedeutung von Lenz in der Literaturwissenschaft sowie für die Leserinnen und Leser.
Kurz zu Ihnen: Wie kommen Sie zur Herausgeberschaft der Hamburger Ausgabe der Werke von Siegfried Lenz?
Kurz? Das ist eher eine lange Geschichte. Alles begann im Sommer 2013 damit, dass der Hoffmann und Campe-Verlag meinen Chef, Prof. Heinrich Detering, fragte, ob er Lust hätte, einen Auswahlband mit Siegfried Lenz’ schönsten/wichtigsten/zu Unrecht vergessenen Essays zu machen, also Texte auszuwählen und ein einführendes Vorwort zu verfassen. Er hatte Lust, und herausgekommen ist im Herbst 2014 der Band „Gelegenheit zum Staunen. Ausgewählte Essays“. Im Rahmen der Arbeiten an dem Band hat er gegenüber dem Verlag und Günter Berg (Lenz’ Verleger und Freund, jetzt Vorsitzender der Lenz-Stiftung) bemängelt, dass es in der existierenden Lenz-Werkausgabe an den grundlegendsten Informationen mangelt, also in den Essay-Bänden nicht einmal steht, um was für einen Text es sich handelt: eine Rede? zu welchem Anlass? eine Auftragsarbeit? ein Essay aus eigenem Antrieb? In seiner eigenen Auswahl hat er das im Anhang immer angegeben, damit die Leserinnen und Leser den Text besser einordnen können. Auch in den Erzählbänden findet man – abgesehen von dem großen Monsterband „Die Erzählungen“, den Günter Berg selbst gemacht hat –, keine Hintergrundinfos zu den Erzählungen.
Da Verlag, Detering und Berg hier einig waren, erwog man, eine neue Ausgabe zu machen, die den Leserinnen und Leser mehr Hintergrundinformationen bietet. Das wurde natürlich durch den Tod von Lenz noch virulenter.
In der Folge gab es also die ersten Treffen im Frühjahr 2015, um Grundlagen der Ausgabe festzulegen: also etwa den Bandzuschnitt, einen groben Zeitplan und die personellen Rahmenbedingungen. Klar war schnell, dass es keine große historisch-kritische Werkausgabe werden sollte, sondern eine Leseausgabe, die eine verlässliche Textbasis bietet (nämlich den jeweiligen Erstdruck) und dann mit einem ausführlichen Kommentar zu Entstehung, Überlieferung und Rezeption ergänzt werden sollte. Zugleich war man in Marbach dabei, den Nachlass von Siegfried Lenz, den dieser dort im Archiv wissen wollte, grob vorzusortieren, zu entstauben und entschimmeln, kurz: ihn überhaupt nutzbar zu machen. Da niemand so ganz genau wusste, was dort eigentlich in den Kisten war, war klar, dass zügig jemand nach Marbach fahren musste, um die Lage zu peilen.
Welche Überraschungen bot Ihnen der Nachlass von Lenz in Marbach?
Ursprünglich war geplant, im Jahr 2016 mit Lenz erstem Roman „Es waren Habichte in der Luft“ und einem ersten Band mit frühen Erzählungen die Werkausgabe zu beginnen. Der nächste Schritt war also, nach Marbach zu fahren und zu gucken, was zu den frühen Erzählungen und dem ersten Roman an Material in den Kisten schlummerte. Das tat ich mit zwei weiteren Göttinger Kolleginnen. In Marbach fanden wir also 20 grob vorsortierte Kästen und diverse völlig unsortierte Umzugskartons voller Material vor, das wir in einer Woche zu sichten versuchten. Dabei ergaben sich vor allem zwei Dinge: Es gab unendlich viele Fassungen von Erzählungen, manche Texte unter Pseudonym geschrieben, manche mit verschiedenen Überschriften aber demselben Text und jedenfalls auch einige, die in den gesammelten Erzählungen nicht enthalten waren. Es war also klar, dass hier ausführlichere Recherchen notwendig waren, um herauszufinden, wann genau welche Erzählung entstanden ist, in welchen Varianten sie existiert usw. Damit war klar, der Band mit den frühen Erzählungen würde länger brauchen, als gedacht, weil zu viel Material in Marbach liegt, das sorgfältig ausgewertet werden muss.
Aber es gab auch noch einen sensationellen Fund in Marbach, oder?
Die zweite Entdeckung war „Der Überläufer“ bzw. „Da gibt's ein Wiedersehen“. Wir stießen zunächst auf zwei Typoskripte, in denen ein Walter Proska eine Rolle spielte, von dem keine von uns je gehört hatte. Klar war also, dass dieser Roman offenbar nicht veröffentlicht worden war, was uns zunächst einmal sehr verwirrte. Dann stieß die Kollegin, die sich eine dicke Kladde vorgenommen hatte, in die Lenz das Manuskript zu den Habichten handschriftlich eingetragen hatte, auf etwas Merkwürdiges: Im ersten Teil der Kladde war der gesamte Habichte-Roman, im zweiten Teil der Kladde ein Text, zu dem Lenz notiert hatte: »... Da gibt’s ein Wiedersehen – Fortsetzung«. Und auch hier tauchte Walter Proska auf, wir hatten also einen Teil des Manuskripts zu den beiden Typoskripten, die wir zunächst gefunden hatten. Dann tauchte eine weitere Kladde auf, die den ersten Teil dieses Romans enthielt (auf dem Umschlagetikett waren auch die verschiedenen Titel zu erkennen, die Lenz erwogen hatte). Wir waren also völlig überrascht und meldeten an Detering/Berg: Unbekannten Roman von Siegfried Lenz gefunden.
Wie regierten die beiden?
Eigentlich dachten wir, dass Berg sagen würde: »Ihr Schafe, das ist doch xy, ihr kennt wohl euren Lenz nicht!« Aber dem war nicht so. Auch er hatte nie von diesem Buch gehört. Das war dann eben „Der Überläufer“, der mit 75 Jahren Verspätung im selben Verlag publiziert wurde, der ihn 1951 abgelehnt hatte. Wenn man als Literaturwissenschaftlerin so einen Fund macht, dann bleibt man natürlich dabei! Da ich im Laufe der Jahre den Nachlass immer besser kannte, wurde ich dann als Mitherausgeberin in das Herausgebergremium der neuen Werkausgabe aufgenommen.
Was waren Ihre ersten Gedanken, als die Aufgabe an Sie herangetragen wurde?
Naja, als das geschah, hatte ich selbst bereits den „Mann im Strom“ ediert und zusammen mit Heinrich Detering auch „Heimatmuseum“ und hatte für einige andere Bände den Herausgeberinnen und Herausgebern beratend zur Seite gestanden, insofern wusste ich, was auf mich zukommt, aber natürlich war und ist es eine große Freude und Ehre, als Hauptherausgeberin tätig sein zu dürfen.
Welche Herausforderungen müssen Sie bei der Hamburger Ausgabe der Werke von Siegfried Lenz meistern?
Den Verlag bei Laune zu halten! Nein, im Ernst, so eine Werkausgabe, die ja in diesem Fall auch sehr großzügig ausgestattet ist, ist natürlich für einen Verlag eine Investition, die keinesfalls selbstverständlich ist, und wir sind sehr froh, dass der Verlag auch in schwierigen Zeiten die Ausgabe fortführt. Vor allem, weil gerade die letzten Monate große Überraschungen gebracht haben. Mit den »einfachen Texten«, also den Romanen, sind wir fast fertig. Im nächsten Monat kommt „Die Klangprobe“ und im Frühjahr „Arnes Nachlaß“, dann fehlt nur noch „Exerzierplatz“, der aber auch in Arbeit ist. Schwieriger gestalten sich gerade die »Wundertüten« Rundfunkwerk, Erzählungen und Essays. Vor allem beim Rundfunkwerk ist nie systematisch recherchiert worden, was Lenz alles für den Rundfunk gemacht hat. Da hat unser Kollege Hans-Ulrich Wagner vom Bredow-Institut in Hamburg (Das Hans-Bredow-Institut (HBI) erforscht den Medienwandel und die damit verbundenen strukturellen Veränderungen öffentlicher Kommunikation, Anm. d. Red.) also Pionierarbeit geleistet und in den Rundfunkarchiven zahllose Schätze heben können.
Eine unglaubliche Arbeit. Wann werden die Ergebnisse vorliegen?
Wenn alles gut geht, werden Sie im nächsten Herbst über 150 Rundfunkarbeiten von Lenz nachlesen können. Ein bislang völlig unterbelichteter Bereich in Lenz’ Werk. Aber natürlich bekommt ein Verlag erstmal einen Schreck, wenn nicht vier Hörspiele zu edieren sind, wie in der alten Werkausgabe, sondern eben mehr als 150 Texte. Lenz ist ein Teil der deutschen Rundfunkgeschichte, und das wird dieser Band erstmals zeigen. Dass dafür lange und umfangreiche Recherchen notwendig waren, kann man sich denken.
Gab es noch weitere solcher Überraschungen?
Ich bin gerade aus dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach zurückgekehrt, wo ich die Lage in Sachen Essays sondiert habe. In der alten Werkausgabe sind knapp 100 Essays von Lenz in zwei Bänden erschienen. Meine Recherche hat nun ergeben, dass es mehr als 500 gibt! Das ist also eine weitaus umfangreichere Materialschlacht, als wir gedacht hatten. Auch das muss der Verlag natürlich erstmal verdauen. Bei den Erzählungen ist es nicht ganz so schlimm, aber auch da gibt es Erzählungen, die in den bisherigen Ausgaben fehlen, es wird also neue Texte von Lenz zu lesen geben. Einer davon, die Geschichte von Florian, dem Karpfen, ist ja bereits vorab bei Hoffmann und Campe und in einer schönen illustrierten Ausgabe bei der Büchergilde erschienen.
Zudem gibt es keine Biographie von Siegfried Lenz, d.h. für viele Texte müssen wir erstmal rekonstruieren, zu welchem Anlass sie entstanden sind. Das ist alles möglich, denn in Marbach ist viel Material vorhanden, aber es kostet eben Zeit und Energie, sich beispielsweise durch einen Stapel Briefe zu lesen, bis Sie den finden, der Ihnen erklärt, zu welchem Anlass ein bestimmter Text entstanden ist. Aber natürlich macht das auch viel Spaß.
Was können Sie uns zum aktuellen Editionsplan sagen?
Eigentlich ist unser Plan, zum 100. Geburtstag von Siegfried Lenz 2026 mit der Ausgabe fertig zu sein. Ob wir es aber schaffen werden, 500 Essays in zwei Jahren zu edieren, müssen wir mal sehen. Aber jedenfalls werden alle Romane 2026 ediert sein, die Schauspiele und das Rundfunkwerk auch. Auch bei den Erzählungen wird hoffentlich der Großteil erschienen sein, um die Essays mühen wir uns, aber mal sehen, wie schnell das geht, aber einen ersten Band werden wir sicher liefern können. Dann werden Sie den jungen Lenz als Journalisten kennenlernen, auch das ist eine bislang unterbelichtete Facette in seinem Werk, man kann nachverfolgen, wie er das journalistische Handwerk lernt, so wie Sie bei den frühen Erzählungen sehen können, wie sich der Erzähler Lenz entwickelt.
Wie würden Sie die Bedeutung von Lenz für die deutsche Literatur einschätzen?
Siegfried Lenz gehört zum Kanon der deutschen Nachkriegsliteratur unbedingt dazu – auch wenn er im Gegensatz zu Böll und Grass nie den Literaturnobelpreis bekommen hat. Lenz ist immer ein Liebling der Leserinnen und Leser gewesen und ein Objekt des Spotts für die Kritiker. Wir betrachten ja im Kommentar zu den Texten auch immer die Rezeption. Wenn man da die Kritiken liest, dreht sich einem oft der Magen um, die Tatsache, dass die Leserinnen und Leser ihn lieben, wird ihm immer wieder zum Vorwurf gemacht. Aber „Deutschstunde“ ist sicherlich einer der bedeutendsten Romane der Nachkriegsliteratur und wird es auch bleiben. Ich finde, er sollte unbedingt Pflichtlektüre in der Schule sein. Ähnliches gilt für die Novelle „Ein Kriegsende“, die mit Blick auf die Schule auch den Vorteil der Kürze hat.
Auch „Heimatmuseum“ ist ein großartiger Roman, der sich mit Themen beschäftigt, die heute wieder so aktuell sind wie 1978, auch wenn man dem Roman ein etwas strengeres Lektorat gewünscht hätte ;-) Was mich überrascht hat – zuletzt gerade bei der Sichtung der Essays –, ist, wie früh und nachdrücklich Siegfried Lenz sich für den Umweltschutz eingesetzt hat. Er hat immer wieder davor gewarnt, dass das Handeln der Menschen den Planeten unbewohnbar machen wird. Seine Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels könnten Sie in den kommenden Tagen auf der Buchmesse in Frankfurt vorlesen und Sie würden nicht merken, dass die von 1988 ist. Siegfried Lenz hat in seinen Romanen und Reden immer wieder Stellung zu den Problemen der Zeit genommen und viele davon beschäftigen uns wieder oder noch immer: die Frage nach der Heimat, die Frage nach der Erhaltung der Lebensgrundlagen, nach dem Umgang mit Flüchtlingen und der Bewahrung der Demokratie. Dazu hat Lenz uns noch immer etwas zu sagen, wir müssen ihn nur lesen. Und Lenz hat sich auch immer als eine Person begriffen, die einen Auftrag hat, die im Sinne der Demokratie und der Verständigung tätig sein muss und möchte, in seinen Reden und in seinen Romanen. Vor dieser Verantwortung hat er sich nie gedrückt. Ihm geht es immer darum, eine klare Botschaft zu senden, auch das hat ihm den Spott der Kritiker eingetragen, die ihm vorwarfen, der Deutschlehrer der Nation mit ewig erhobenem Zeigefinger zu sein. Ich finde, das ist eine seiner Stärken: Lenz lässt seine Leserinnen und Leser nie ratlos zurück, nachdenklich, ja, aber nie ratlos oder verwirrt.
Sie haben sich intensiv mit seinem Lebenswerk beschäftigt: Wo sehen Sie seine größten Stärken als Autor und wo seine Schwächen?
Siegfried Lenz ist, das hat er auch immer und immer wieder gesagt, ein »alter Geschichtenerzähler«. Und das kann er wie kein zweiter. Wenn er erzählt, sehen Sie die Landschaft und die Personen vor sich. Er hat ein unglaubliches Gespür für Charaktere, finde ich, da reichen ein paar Striche und Sie sehen vor sich, wovon er spricht. Dabei ist er – bis auf eine Ausnahme: „Duell mit dem Schatten“ – ein konventioneller Erzähler, es ist nicht anstrengend, ihn zu lesen, man tut das mit Vergnügen. Das hat ihm die Kritik oft vorgeworfen: alles zu betulich, zu ausführlich, zu viele Abschweifungen, zu leserfreundlich, zu wenig herausfordernd. Ja, manchmal ist er umständlich: diesen nervigen Rahmenerzähler im „Heimatmuseum“ beispielsweise hätte er sich meinetwegen gern sparen können und die eine oder andere doch sehr blumige Umschreibung hätte eine Lektorin oder ein Lektor auch gern herausstreichen dürfen, aber das ändert nichts daran, dass Lenz sich wichtiger Themen annimmt und wirklich oft unfassbar gut erzählt. Allein die Figur des Vaters von Zygmunt Rogalla ist eine tolle Erfindung oder dieser biestige Großvater, oder nehmen Sie den „Mann im Strom“: ein unglaublich eindrückliches Buch, absolut zeitlos in Thematik und Ausführung. Gleiches gilt für viele der Erzählungen.
Natürlich geht mitunter ein Text auch mal daneben wie etwa „Die Klangprobe“, da versucht Lenz etwas, und es funktioniert einfach nicht, man versteht zwar, was er eigentlich will, aber die Ausführung scheitert, es kommt kein überzeugender Text dabei heraus. Und das finde ich wiederum großartig an Lenz: Er ist immer bereit anzunehmen, dass ihm möglicherweise etwas einfach auch mal nicht gelungen ist. Lesen Sie „Die Klangprobe“ trotzdem! Die Selbstironie des Erzählers ist ein großes Vergnügen und das Thema ist noch immer aktuell. Lenz zu lesen ist einfach vergnüglich, und wer nicht genug Atem für die langen Texte hat, sollte sich den „Großen Zackenbarsch“ mal vornehmen oder von Lenz selbst gelesen anhören, denn Siegfried Lenz hat auch Humor. Und der kommt besonders in seinen Erzählungen zum Tragen.
Ganz zum Schluss (die Frage muss sein): Was ist Ihr persönlicher Lenz-Favorit?
Ganz klar: Arnes Nachlaß.
Vielen Dank für das ausführliche Gespräch, Frau Ermisch
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