„Ich glaube, man sollte überhaupt nur noch solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch?“ So Franz Kafka an den österreichischen Kunsthistoriker Oskar Pollak 1904. Gemessen daran ist der neue Roman von Colson Whitehead ein zahnloser Tiger, eine Wespe ohne Stachel, eine sanft streichelnde Hand – oder einfach nur langweilig.
Diese Enttäuschung traf mich bei „Die Regeln des Spiels“, so der Titel des Romans von Whitehead, völlig überraschend. Denn den Autoren habe ich über die „Nickel Boys“, „Underground Railroad“ und „Harlem Shuffle“ sehr zu schätzen gelernt. Meine Vorfreude auf den neuen Roman stieg noch weiter, als ich über den Rückenklappentext erfuhr, dass es sich um eine Fortführung von „Harlem Shuffle“ handelt.
Wie in dem Vorgängerroman erfahren wir Details aus dem Leben des Möbelhändlers Ray Carney: er ist schwarz und ein typischer New Yorker. Während „Harlem Shuffle“ in vergnüglicher und plastischer Art und Weise Harlem in den späten 1950er- und beginnenden 1960er-Jahren charakterisiert, bewegt sich Whithead mit seinem neuen Roman in den wilden Siebzigern. Carney hat dem Dealerdasein „Lebe wohl“ gesagt und führt ein braves Familienleben. Dazu gehören auch Teenager-Quengelei: Seine Tochter möchte unbedingt für das ausverkaufte Konzert der „Jackson Five“ Karten haben. Dafür muss Carney seine alten Verbindungen aktivieren und schneller als er bis drei zählen kann, ist er wieder mittendrin im New Yorker halbseidenen Kiez.
Whitehead wirft in seinem Roman vereinzelte Schlaglichter auf die zerfallende Gesellschaft New Yorks zu Beginn der 70er-Jahre. Es sind einzelne Mosaikstückchen, die sich zu einem Gesamtbild formen sollen. Ein ganz großer Roman hätte es werden können, wenn Whitehead nicht scheinbar völlig ohne Konzept vorgegangen wäre. Es sind minimalistische Einblicke, die er uns gibt, in ein Milieu bestehend aus Kleinkriminellen, Kämpfern der Black Liberation Army und korrupten Cops. Dabei verharrt sein Blick auf Szenen und Menschen leider viel zu kurz – die Mosaikteilchen sind nicht groß genug, um ein rundes Bild abzugeben. Im ersten Teil des Romans werden beispielsweise innerhalb kurzer Zeit so viele Personen eingeführt, dass ich schlicht den Überblick verloren habe. Wer war das nochmal? Warum ist der wichtig? Ich dachte beim Lesen unwillkürlich öfters an John Irving, der auch ständig unwichtige Personen einführt. Aber sie erhalten bei ihm eine authentische Biographie. Weswegen seine Romane ja auch immer um die 1000 Seiten lang sind. Whitehead hat rund 380 Seiten und bei den kurzen Intervallen an neueingeführten Personen ist das nicht ausreichend. Da fliegen einem die Namen um die Ohren, wie Tennisbälle aus der Trainingsmaschine. Seine Charaktere – außer die Hauptpersonen – wirken farblos und es ist mit zunehmend egal gewesen, welches Schicksal sie erlitten haben oder noch erleiden müssen. Ihre Präsenz war ja nur von kurzer Dauer. Soll halt der nächste kommen. Auch nicht interessant? Der nächste bitte. Das wird spätestens nach 100 Seiten langweilig.
Man kann dem Autor zugutehalten, dass er zumindest seine Hauptpersonen ganz vortrefflich charakterisiert hat. In den Teilen des Romans, die tatsächlich von ihnen handeln, ist er großartig. Aber dann kommen immer wieder diese Passagen, in denen er abschweift. Eine ganz unglückliche Mischung: Der ausufernde und langatmige Erzählstil eines Thomas Mann, gepaart mit dem Wunsch viele Nebenhandlungsstränge aufzumachen, wie John Irving.
Ich habe es bis zur Hälfte ausgehalten. Dann habe ich den Faden komplett verloren und die Lesekatastrophe nahm ihren Lauf – ich musste aussteigen. Schade. Cooles Thema, coole Zeit und cooler Autor. Diesmal aber total versemmelt. Das war leider nichts, Mr. Whitehead. Ich gebe drei von zehn ABCs.
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