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Durchgelesen und Berlin in den "Roaring Twenties"erlebt – Teil 105




Ab und zu treffe ich auf Bücher, die mich in ihren Bann ziehen, bei denen aber jeder Satz schmerzt. Das kann aus ganz unterschiedlichen Gründen so sein. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Roman „Die Wohlgesinnten“ von Jonathan Littell. In seiner Entsetzlichkeit absolut faszinierend und dabei aus demselben Grund so abstoßend. Hans Fallada „Kleiner Mann – was nun?“ gehört ebenfalls in diese Kategorie - ganz andere Intention, anderer Stoff, gleiche Wirkung.


Fallada erzählt die Geschichte von Johannes Pinneberg und seiner Freundin Lämmchen. Die beiden schlagen sich durch Berlin am Ende der Weimarer Republik. Der Roman erschien 1932 und spielt auch ungefähr zu der Zeit – unmittelbar vor der Machtergreifung. Wir lernen die Alltagsprobleme kennen. Pinneberg arbeitet zunächst in der Düngemittelindustrie, dann – dank der Fürsprache des Freundes seiner Mutter – als Anzugverkäufer. Mit dem Jobwechsel zogen die Pinnebergs, mittlerweile verheiratet und Nachwuchs kündigt sich auch an, ins Berliner Zentrum. Hier im Schmelztiegel verschärfen sich auch die Probleme – Pinneberg kämpft um Würde und Glück in einer Zeit des sozialen Wandels. Die ständige Angst den Job zu verlieren und die finanziellen Sorgen bestimmen das Leben der jungen Familie. Berlin in den „Roaring Twenties“: Straßenschlachten zwischen Nazis und Kommunisten, Nudisten, die sich heimlich treffen, und das teure Nachtleben bestimmen die Stadt. Eine gute Stadt zum Leben, wenn man nicht in eine Abwärtsspirale gerät.


Der Berliner Aufbau Verlag hat die Geschichte erstmals in der Originalfassung auf den Markt gebracht. Diese Edition des Romans ist bereits 2016 erschienen und für mich ein Zufallsfund gewesen. Fallada, der Deutschland im Nationalsozialismus nie verlassen hat, musste aufgrund der politischen Situation seine Romane anpassen, kürzen und teilweise umschreiben – vor und während der NS-Zeit, aus Rücksicht auf das bürgerliche Publikum. Aufbau hat den Text so herausgebracht, wie Fallada ihn wollte.


Die ungekürzte Version hat zwar auch ein paar Längen, aber insgesamt kommen die Personen plastischer und authentischer an. Dem ausführlichen Nachwort der Ausgabe kann entnommen werde, dass Fallada vor allem die politischen Aussagen und die Beschreibung des freizügigen Berliner Nachtlebens streichen musste. Es bleibt in der Aussage das gleiche Buch.


Fallada ist Teil der so genannten „Neuen Sachlichkeit“, eine Literaturströmung, der auch Berthold Brecht angehörte. Sie zeichnet sich vor allem durch die nüchterne Darstellung des Alltags aus. Daneben zählen eine präzise und nüchterne Sprache ohne Ausschmückungen, realistische Beschreibungen und eine distanzierte Betrachtungsweise zu ihren Kennzeichen. Themen wie soziale Ungerechtigkeit, politische Instabilität und wirtschaftliche Krisen prägten die literarische Bewegung, die einen klaren Bruch mit expressionistischen Ausdrucksformen darstellte.


Fallada ist ein typischer Vertreter dieses Genres und sein Roman „Kleiner Mann – was nun?“ ein Paradebeispiel. Der Autor schildert nicht, er stellt dar. In seiner Distanziertheit wirkt der Text umso brutaler. Kein Mitleid, keine Parteinahme – einfach dargestellt. Diese Kälte in dem Text macht es mitunter schwer erträglich. Deshalb: Ein faszinierendes Buch, was für mich schwer zu lesen war. Jedes Mal, wenn ich das Buch zuklappte, erfüllte mich eine tiefe Dankbarkeit. Dankbarkeit für das, was ich habe und so wie ich leben kann. Vielleicht nicht die schlechteste Erfahrung, die man bei einem Buch machen kann.



Vielleicht spürte Fallada, wie deprimierend sein Text ist. Denn er gibt dem Leser Hoffnung. Eine Hoffnung, die in Form der reinen Liebe kommt – zwischen Pinneberg und seinem Lämmchen. Unmittelbar auf der letzten Seite des Romans heißt es: „Und plötzlich ist die Kälte weg, eine unendlich sanfte grüne Woge hebt sie auf und ihn mit ihr. Sie gleiten empor, die Sterne funkeln ganz nah, sie flüstert: »Aber Du kannst mich doch ansehen! Immer und immer! Du bist doch bei mir, wir sind doch beisammen. Wir beide!«“ Ein paar Sätze zum Weinen schön.


Hans Fallada „Kleiner Mann – was nun?“ ist keine einfache Lektüre. Es verlangt dem empathischen Leser vor allem emotional einiges ab. Aber es ist ein geniales Buch. Zehn von zehn Murkels. Nur fest steht, jetzt als nächstes muss es mal wieder etwas poetischer werden.

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