Durchgelesen und in ein Loch gefallen 178
- berndhinrichs
- 25. Mai
- 2 Min. Lesezeit

Wer ein Buch in die Hand nimmt, begibt sich vom ersten Satz an auf eine Reise. Nicht immer ist gleich klar, wohin es geht: ob in 80 Tagen um die Welt, in eine ferne Zukunft, in seine eigene Psyche oder einfach nur zum netten Nachbarn um die Ecke, der gerade seine Familie umgebracht hat. Die Autorin oder der Autor ist dabei unserer Reisebegleiter. Besonders spannend ist es, wenn unsere Reisebegleiter aus einem ganz anderen Kulturkreis kommen, etwa Asien oder Afrika, und sie unseren Blick für ganz andere Dinge schärfen, als wir es vielleicht gewohnt sind. Die Reihe Weltempfänger der Büchergilde Gutenberg, die leider pausieren muss, versammelt solche Texte. Mein neuestes Buch: Hiroko Oyamada Das Loch, das ursprünglich im Rowohlt Verlag erschien.
Auf den ersten Blick passiert bei Das Loch gar nicht viel: Asa, eine junge Frau, zieht mit ihrem Mann aufs Land, direkt neben die Schwiegereltern, nachdem er einen neuen Job angefangen hat. Haus statt Wohnung, ohne Miete und viel Platz. Die Rahmenbedingungen klingen zu gut um wahr zu sein. Wehrmutstropfen: Asa muss ihren Job aufgeben und zukünftig zunächst Hausfrau sein. Doch in der neuen Umgebung verschwimmt die Grenze zwischen Realität und Traum immer mehr. Ihr Mann kommt erst nachts nach Hause, ist ständig am Handy. Asa vereinsamt. Ein unscheinbarer Spaziergang endet abrupt: Asa fällt – buchstäblich – in ein Loch. Und ab diesem Moment öffnet sich eine andere Welt. Sie lernt ihren Schwager kennen – von dem sie nicht mal wusste, dass er existiert – oder beobachtet den Großvater, der selbst im strömenden Regen den Garten wässert.
Oyamada erzählt uns eine ruhige Geschichte. Das Skurrile hält ganz langsam Einzug in das Leben der Protagonistin. Darin ähnelt der Text Daniels Kehlmanns kurzer Erzählung Du hättest gehen sollen, in der der Bergtrip einer jungen Familie zum Alptraum wird. Hier wie dort wird der langweilige Alltag überschattet von bedrückenden Bildern. Bei Oyamada beginnt alles mit dem Sturz in das Loch. Von diesem Moment an nehmen die Handlungen der Personen in ihrem Umfeld seltsame bis beängstigende Züge an. Ihr Mann, der sich immer mehr abkapselt oder der Großvater, der im strömenden Regen den Rasen wässert.
Man kann das Buch wie Kehlmanns Du hättest gehen sollen als einen spannenden Trip zwischen Fiktion und Realität wahrnehmen. Dann wäre er allein schon lesenswert. Die Wahl des Loches bringt aber eine Metaebene mit. Die Protagonistin fällt in das Loch, nachdem sie alles aufgegeben hat: ihr Umfeld, ihren Job – kurz: ihr Leben. Das Loch gleicht dem seelischen Abgrund, in den sie stürzt. Oyamada erzählt die Geschichte einer entwurzelten jungen Frau, die den Normen entsprechen will. Sie zieht mit ihrem Mann aufs Land, weil er eine neue Stelle bekommen hat. Die Autorin gibt uns einen tiefen Einblick in die japanische Gesellschaftsordnung. Immer wieder ist von der finanziellen Situation die Rede. Und davon, was eine Frau zuhause macht, wenn keine Kinder da sind? Hinzu kommt, dass in dieser Situation die alles umgebende Natur nicht den gewünschten Seelenfrieden bringt, sondern als zusätzlich Bedrohung auftaucht – beispielsweise in Form der lautstarken Zikaden oder unheimlicher Tiere. Auch das Wetter trägt nicht zur Beruhigung bei: Starkregen oder unerträgliche Hitze.
Das Loch ist ein berührend-unheimlicher Text. Ich habe mich mit einem unguten Gefühl auf die Reise gemacht und wurde mit einer fesselnden Geschichte belohnt. Ich gebe zehn von zehn Schwiegermütter.
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