Durchgelesen und Leichen seziert – Teil 173
- berndhinrichs
- vor 12 Minuten
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Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte
sah so angeknabbert aus
Als man die Brust öffnete, war die Speiseröhre so durchlöchert
Schließlich fand man in einer Laube unter dem Zwerchfell
ein Nest junger Ratten.
Es waren Gedichtzeilen wie diese, die mich neugierig auf ihren Autor machten: Gottfried Benn. Arzt, Lyriker und umstrittener Dichter. Galt er mit seinem Gedichtzyklus Morgue noch als einer der wichtigsten Vertreter des Expressionismus, so prägten vor allem sein Essay Züchtung und sein offener Brief Antwort an die literarischen Emigranten und damit seine Haltung zum Dritten Reich das Bild von Benn in der Bundesrepublik. Genie oder politisch verirrter Spinner. Die Grenzen scheinen fließend. In seinem umfangreichen Essay Über Gottfried Benn spürt Florian Illies dem umstrittenen Dichter nach.
Das Illies Benns Lyrik verehrt weiß jeder, der seine Bücher 1913 oder Liebe in Zeiten des Hasses gelesen hat. In Ihnen kommt die ganze Bewunderung raus. Gleichzeitig aber ist Illies abgestoßen von Benn – von seinen politischen Schriften nach 1933. Davon legt er Zeugnis ab, in seinem sehr privaten Buch über Benn. In acht Kapiteln nähert sich der Journalist und Autor dem Phänomen Benn. Er beschreibt, wie er noch ehemalige Lebensgefährtinnen des Lyrikers getroffen hat, wie sein Verhältnis zum Bremer Kaufmann Wilhelm Oelze war, was war Else Lasker-Schüler für ihn und wie entwickelte sich sein Verhältnis zum Nationalsozialismus.
Illies beginnt sein Essay mit dem Satz: Je länger ich Gottfried Benn liebe, desto weniger verstehe ich meine Liebe. Ein Satz, der das ganze Problem mit Benn charakterisiert. Immer wieder kommt Illies ins Schwärmen, wenn er von den Gedichten Benns spricht. Er bezieht auch das Spätwerk des Poeten mit ein, dass für viele Leser nur noch blanker Kitsch ist. Nicht so Illies. Er arbeitet sich unterhaltsam und leicht verständlich durch alle Phasen von Benns Schaffen. Er zeigt auf, wo die Genialität des Lyrikers zu finden ist.
Nachdem ich das erste Mal den Zyklus Morgue gelesen hatte, wusste ich, dass ich mehr von Benn lesen wollte. Mit der bibliophilen Stuttgarter Ausgabe seiner Sämtlichen Werke habe ich das Rüstzeug zur Entdeckung seines Œuvre im Regal stehen. Allein mir fehlte bisher eine Landkarte, mit der ich mich zurechtfinden kann, in der großen Textfülle. Illies liefert mir diese Karte, setzt Fixpunkte und macht neugierig auf den Rest. In Über Gottfried Benn habe ich den Schlüssel zum Werk gefunden. Je länger ich Gottfried Benn liebe, desto weniger verstehe ich meine Liebe. Wie wahr dieser Satz doch ist. Ich gebe zehn von zehn Giselheers.
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