Das Romanwerk von Siegfried Lenz nähert sich so langsam dem Ende. In der Hamburger Ausgabe der Werke liegt mit Band 14 Arnes Nachlass vor. Jetzt habe ich von seinen Romanen nur noch Exerzierplatz vor mir und frage mich, wieso ein so großer Erzähler langsam in Vergessenheit geraten kann. Die Belletristikregale in den Buchhandlungen quellen über vor so dermaßen viel belanglosem Zeug, das ein wenig Niveau guttun würde. Lenz verbindet beides: Niveau und die Fähigkeit eine fesselnde Geschichte zu erzählen. Arnes Nachlass ist ein weiterer Beweis dafür.
Sie beauftragten mich, Arnes Nachlass einzupacken. Mit diesem Satz beginnt Lenz sein psychologisches Porträt eines Jungen, der an der Gegenwart zerbricht. Arnes Vater hat in einer schicksalhaften Nacht seine ganze Familie umbringen wollen. Einzig Arne überlebt und kommt als Pflegekind in die Familie eines Freundes des Vaters. Hier lernt er dessen Kinder Hans, mit dem ihn gleich von Anfang an eine Freundschaft verbindet, sowie Lars und Wiebke kennen. Vor allem die beiden begegnen dem Sonderling Arne mit großem Misstrauen. Bestärkt werden sie dabei von ihren Freunden. Der Roman ist von Hans in der Ich-Perspektive geschrieben, der beim Verpacken der persönlichen Gegenstände von Arne die Zeit mit ihm Revue passieren lässt. Erst ganz am Schluss erfährt der Leser, was aus Arne geworden ist.
In seinem 1999 erschienenen Werk entwirft Lenz eine extrem dichte Erzählung. Und um es genau zu nehmen ist das auch gleich der richtige Begriff: Erzählung, denn die Kategorie Roman will nicht so recht passen auf das kurze Prosastück, das gerade mal 150 Seiten in der Hamburger Ausgabe einnimmt. Aber – und das ist Verlagspolitik – Romane lassen sich eben besser verkaufen als Erzählungen. Nicht zuletzt aufgrund dieser atmosphärischen Erzählweise hat Maren Ermisch, Herausgeberin der Hamburger Werke, im Interview mit mir gerade dieses Werk als ihr liebstes von Lenz genannt. Wie in vielen anderen Werken auch, schildert Lenz eine Szenerie am Wasser. Arnes Pflegevater betreibt eine Abwrackwerft an der Elbe, die wie immer nur Der Strom genannt wird. In der Beschreibung diese Gelände fließt so viel Detailliebe, dass der Leser sich jede dunkle Ecke, jeden Schrotthaufen und jeden Kahn vorstellen kann, der dort zu finden ist. Fast hatte ich schon den Ölgeruch vermischt mit dem Fäulnisgestank des Elbeschlamms in der Nase.
Das Echo auf seinen neuen Roman war geteilt. Da der Roman aus Sicht eines jungen Menschen geschrieben wurde, beklagten viele Rezensenten, dass kein junger Mensch am Ende des 20. Jahrhundert so reden, denken oder geschweige denn schreiben würde. Das mag ja sein, aber mir ist in jedem Fall ein über 70-jähriger Schriftsteller lieber, der in ehrlicher und schöner Sprache seine Geschichte durch die Feder eines jungen Menschen erzählt, als würde er stattdessen versuchen sich mit einem jugendlichen Slang anzubiedern. Auf die Bemerkung, dass Lenz immer nur die Deutschstunde in unterschiedlichen Versionen erzählen würde, gehe ich hier erst gar nicht ein. Die Auflehnung, Fundbüro oder auch Brot und Spiele zeigen, dass er sehr viel mehr kann.
Arnes Nachlass ist ein fein ausgearbeitetes Psychogramm eines jungen Menschen, das zwar Ende des 20. Jahrhunderts spielt, aber zeitlos ist. Eingebettet hat es der Autor es in eine großartige Topophilie, die tiefe, gefühlvolle Beschreibung der Werft, die über das bloße Visuelle hinausgeht und eine emotionale Dimension umfasst. Auch dieser Lenz bekommt von mir zehn von zehn Knotenbretter.
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